Dr. Daniel Norden war so in den Krankenbericht von Esther Tomaso vertieft, daß er überhörte, als Wendy ihm einen Patienten ankündigte. Die Vormittagsstunde war fast beendet. Er erwartete nur noch die Patientin, mit deren Laborbefunden er sich gerade beschäftigte und die ihm mehrfaches Kopfschütteln abnötigten.
Er hörte auch nicht, daß die Tür geöffnet wurde und blickte erst leicht erschrocken auf, als eine dunkle Männerstimme sagte: »Pardon, wenn ich störe, aber Ihre Assistentin sagte mir, daß Sie mich jetzt erwarten.«
Dr. Norden sah den hochgewachsenen, dunkelhaarigen Mann irritiert an, denn erwartet hatte er eine junge Dame.
»Mein Name ist Lennart van Eicken. Ich komme auf Empfehlung von Professor Röttgen.«
Dieser Name war allerdings Empfehlung genug. Dr. Norden war jetzt ganz bei der Sache.
»Direkt aus Kapstadt?« fragte er. »Sie entschuldigen bitte meine Unaufmerksamkeit, ich hatte mit einer Patientin gerechnet, mit deren Befund ich mich gerade befaßt hatte.«
»Wenn Sie mir einen anderen Termin geben wollen, ich bleibe einige Zeit in München.«
Es klopfte, und Wendy schaute herein. »Bitte um Entschuldigung, aber ich wollte nur Bescheid sagen, daß Frau Tomaso erst morgen kommen kann, und da Herr von Eicken auf Empfehlung von Professor Röttgen kommt, dachte…«
»Ist schon in Ordnung, Wendy«, wurde sie unterbrochen. »Sie können jetzt Mittagspause machen.«
Er hatte eine halbe Stunde für Esther Tomaso eingeplant, und die konnte van Eicken zugutekommen, der auf ihn einen sehr sympathischen Eindruck machte. Seltsamerweise hatte er das Gefühl, diesen Mann zu kennen, aber das mußte wohl Einbildung sein und an diesen Augen liegen, die ihn so intensiv und forschend ansahen.
»Sie haben mit Professor Röttgen zusammengearbeitet?« fragte Daniel.
»Nein, das nicht, ich war ziemlich lange sein Patient und darf mich glücklich schätzen, sein Freund geworden zu sein. Er hat so voller Wärme von Ihnen gesprochen, von Ihrer Frau und Ihrer Familie, daß ich mit der Hoffnung komme…«, unterbrach sich und fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn.
Daniel sah, daß seine Hand zitterte.
»Nehmen Sie doch erst mal Platz«, sagte er und schenkte ihm ein Glas Wasser ein. Van Eicken nahm ein Döschen aus seiner Jackentasche und schluckte dann schnell zwei kleine Tabletten.
»Ich hatte einen schweren Unfall, der mir immer noch zu schaffen macht. Ein Schreiben von Thilo Röttgen wird Ihnen das Wichtigste erklären, sofern Sie dazu bereit sind, sich mit meinem Fall zu befassen.«
»Eine Diagnose von diesem hochgeschätzten Kollegen wird kaum irgendwie zu widerlegen sein«, sagte Daniel nachdenklich.
»Das nicht, aber Thilo meint, daß Sie völlig objektiv noch zu anderen Ergebnissen kommen könnten. Er ist Chirurg und Neurologe. Sie sind seiner Meinung nach der beste Allgemeinarzt, den er kennt. Er hat mir auch von der Insel der Hoffnung erzählt. Ich kann Ihnen nur den Hinweis geben, daß ich meine Identität suche.«
Daniel hielt den Atem an. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie nicht genau wissen, wer Sie sind?« fragte er stockend.
»Ich weiß überhaupt nichts, auch nicht, wie ich einmal hieß. Eigentlich war ich tot, als ich am Strand gefunden wurde, nur mein Herz hörte nicht auf zu schlagen, wie Thilo mir später erzählte. Da er nichts von mir wußte, betrachtete er mich als Versuchsobjekt für seine Forschungen. Ich hätte ja die Behandlung und den Klinikaufenthalt nicht bezahlen können. Werden Sie sich mit mir befassen? Ihr Honorar wäre gesichert.«
Daniel lächelte flüchtig. »Ich bin Thilo Röttgen einiges schuldig, aber abgesehen davon interessiert mich Ihr Fall sehr, Herr van Eicken.«
»Sagen Sie einfach Lennart, Dr. Norden, das ist zwar auch ein geschenkter Name, aber mir doch schon irgendwie vertrauter. Bei mir sitzt die Angst tief, daß es wirklich einen Lennart van Eicken gibt, der mich als Betrüger bezeichnen könnte.«
»Das sollte Ihre geringste Sorge sein. Es gibt oft Namensgleichheiten. Aber ich werde Zeit brauchen, um mich mit einer Persönlichkeit vertraut zu machen, von der ich auch nichts weiß. Könnten Sie morgen nachmittag kommen, da hätte ich diese Zeit, weil keine Sprechstunde ist.«
»Ich kann mich ganz nach Ihnen richten, wann wäre es Ihnen recht?«
»Fünfzehn Uhr?«
Der andere nickte zustimmend. »Ich danke Ihnen, Dr. Norden.«
»Wo wohnen Sie in München, wenn ich fragen darf?«
»Bei Thilos Schwester, Frau Horten, aber sie weiß nichts von meinem Vorleben. Allerdings weiß ich ja davon auch nichts. Können Sie sich vorstellen, was das für ein Gefühl ist? Es verursacht Angstträume.«
»Wir werden in aller Ruhe darüber sprechen.«
»Die Laborbefunde habe ich dabei. Soll ich sie gleich hierlassen?«
»Das wäre mir recht. Dann kann ich mich schon damit befassen.«
»Manchmal denke ich, daß es vielleicht besser wäre, Thilo hätte mich nicht ins Leben zurückgebracht«, sagte Lennart leise.
»Wie ich ihn kenne, wird er überzeugt sein, daß es sich gelohnt hat. Sie können sprechen, Sie können denken und fühlen, Sie haben ein Gesicht.«
»Mein zweites Gesicht, wie könnte mein erstes ausgesehen haben? Auch diese Frage beschäftigt mich.«
Daniel Norden blickte in ein Gesicht, das fast vollkommen schien, aber er konnte nicht verhindern, daß ein Frösteln durch seinen Körper kroch. Was mochte diesem Mann widerfahren sein, als er gefunden wurde an einem Strand in Südafrika. Wie war er dorthin gekommen?
Er reichte ihm die Hand, Lennarts Hand war warm und kräftig. Daniel fühlte sich versucht, sie genau zu betrachten, aber das wollte er lieber morgen tun, sonst kam er nie nach Hause und er hatte vormittags wieder Sprechstunde.
*
»Hallo, mein Schatz, wo bist du mit deinen Gedanken?« fragte Fee Norden, als sich ihr Mann abends so schweigsam zeigte wie selten.
»Du wirst staunen, was ich erzählen kann. Da wirst du wieder deine Phantasie walten lassen, aber es wird auch dir schwerfallen, eine Erklärung für dieses Schicksal zu finden. Es ist überhaupt eigenartig, daß ich fast gleichzeitig mit zwei mysteriösen Fällen zu tun habe.«
»Da scheinst du mir ja allerhand verschwiegen zu haben«, meinte Fee hintergründig.
»Esther Tomaso war noch nicht spruchreif, und dieser Lennart van Eicken erschien erst heute bei mir. Professor Röttgen hat ihn geschickt.«
»Wie nett, daß man von ihm auch mal wieder etwas hört. Ist er immer noch in Kapstadt?«
»Ja, und dort wird er wohl auch bleiben.«
»Und warum bleibt der Patient nicht bei ihm?«
»Das ist eine komplizierte Geschichte. Eicken muß einen ungeheuer schweren Unfall gehabt haben. Er wurde, wie er mir erzählte, fast tot an einem Strand in der Nähe von Kapstadt gefunden und lag lange im Koma. Er hat überhaupt keine Erinnerung mehr, auch nicht an seinen Namen und sein früheres Gesicht, denn Röttgen und ein paar andere Ärzte scheinen ihm ein neues gegeben zu haben.«
Fee sah ihn skeptisch an. »Ist er glaubwürdig?«
»Durchaus, aber ich kann ja Röttgen jederzeit anrufen und mich mit ihm absprechen. Es muß eine sehr dramatische Geschichte sein, und Röttgen scheint zu denken, daß ich dem Mann helfen kann, mehr über sich in Erfahrung zu bringen.«
»Er hat immer schon große Stücke auf dich gehalten und das mit Recht, mein Schatz. Schließlich haben wir auch schon mit einigen sehr schwierigen Fällen zu tun gehabt, wo wir auch helfen konnten. Was hast du also mit ihm vor?«
Das war typisch Fee, die sich nicht lange mit Vermutungen aufhielt, sondern den Dingen gleich auf den Grund ging.
»Er kommt morgen nachmittag zu mir, da nehme ich mir Zeit. Vorerst befasse ich