Einmal noch schöpfte sie Hoffnung, raffte sich auf aus ihrer lebensmüden Apathie und sang wieder die Lieder ihrer Mädchenzeit. Die Hoffnung währte nur einige Tage. Geschürt hatte sie die Haintzin, des blinden Mesmers Weib. Die Haintzin riet ihr, es beim Jungen mit verschiedentlichen Abreibungen, Aufgüssen und Umschlägen zu probieren. Die Idee sei ihr gekommen, schnaufte sie, wie sie nichtsdenkend in den grünen Maimorgen geblinzelt habe. Grün, überall Grün, habe sie gedacht. Es müsse doch möglich sein, etwas von diesem Grün dem Elias zurückzugeben, und sie wisse auch schon wie.
Man versuchte es zuerst mit den Blättern des Löwenzahns, befeuchtete sie mit Speuz und klatschte sie dann auf die geschlossenen Lider des Kindes. Elias durfte sich den ganzen Nachmittag nicht ein Rückchen von der Stelle rühren. Am Abend löste man die erlahmten Blätter in der Erwartung, ein herrliches Löwenzahngrün in den Pupillen vorzufinden. Allein die Kerze leuchtete neidisch hinein in ein Gelb, das ihr eigenes Gelb verblassen machte.
Am nächsten Tag ging man früh ans Werk, streifte den halben Vormittag über die Bündten, sammelte Schürzen von Kräutern und überhaupt alles, das sich durch ein veritables Grün auszeichnete. Gar die Jährlinge der Rottannen, die man sonst zu Honig verkochte, brockten die emsigen Weiber. Die Haintzin riet, es mit den Jährlingen zuerst zu versuchen. Das führte allerdings zu dem Ergebnis, daß, nachdem die Trieblinge in siedendem Wasser gesotten und man das Wasser auf die Lider geträufelt hatte, der arme Elias schwere Verbrühungen davontrug. Kaum war der Elende genesen, ersann die Haintzin eine neue Methode, das Grün der Pupillen herbeizuführen.
Die Idee sei ihr gekommen, wie sie nichtsdenkend das Abendgras für ihr Vieh gesenst habe. Da es sich um ein innerliches Siechtum handle, könne man – Mein Gott und mein Herr, daß ihr das erst jetzt aufgehe! – selbiges auch nur innerlich behandeln. Also nahm sie einen Suppenteller und rieb etwas Birken- und Weißbuchenrinde hinein, vermengte die Rinde mit Faltrianblättern, Schmerwurz, Seidelbast und Türkenbund und träufelte zwei Löffel Erstmilch einer frischgekalbten Kuh hinein. Das Ergebnis führte diesmal zu einem nachtlangen Magenkrampf, und als sich die Weiber anschickten, es mit einer abermals neuen Kur zu versuchen, schmetterte sie der Bub mit einem lauten, bösen Röhren aus dem Gaden. Es blieb der Haintzin versagt, das melancholische Regengrün seiner Augen wieder zum Leuchten zu bringen und sie kehrte von da an nur noch selten bei ihrer Freundin ein. Es gebe, entschuldigte sie sich, neuerdings so viel Arbeit und eine Kalberei nach der anderen auf ihrem Hof.
Zwei Winter lebte Elias im Gaden eingesperrt. Hie und da kam Peter, stand schweigend unterm Fenster, stierte hinauf und ging wieder. Nulf, der Vater, Seffs Bruder und Todfeind, vermochte ihm diese Besuche nicht auszutreiben, nicht einmal durch blutige Prügel. Peter kam, schwieg und ging wieder. Die Jungen sprachen kaum drei Worte miteinander. Aber die eigenwillige Treue des Peter bewirkte, daß Elias Zutrauen zu ihm fand.
Der Weiße Sonntag kam. Elias hätte schon vor einem Jahr kommunizieren sollen, doch hatte die Mutter beim Kuraten eine Verschiebung erwirkt. Der Junge sei ganz unerwartet an einer schmerzvollen Gliedersucht erkrankt, log die Seffin, und derzeit plage ihn eine misteriose Schmalbrüstigkeit, gepaart mit fürchterlichem Kopfgrimmen. Man solle die Kommunion um abermals ein Jahr verschieben. Das mochte der Kurat Friedolin Beuerlein nun nicht mehr glauben und betrat festen Entschlusses den Hof des Seff Alder. Kurat Beuerlein war ein gutmütiger, dürrer und sehr langnasiger Herr. Als nach ruhigem Zureden sich die Eheleute noch immer nicht bereitfanden, den Elias kommunizieren zu lassen, tat der Kurat einige für ihn ungewohnt harte Worte und fing an, den viehischen Starrsinn der Eltern aufs heftigste zu tadeln. Seff und sein Weib blieben stur. Erst als der Kurat alle nur erdenklichen Höllenqualen für eine derartige Todsünde ins Treffen führte, willigte Seff ein. Sein Weib nicht. Es sei ihr gleichviel, bockte sie, wenn sie in der Hölle auf einer Lanze aufgestochen dahinschmore. Der Bub gehe nicht zur Kommunion.
Ohne den Hergang der Kommunion im einzelnen auszubreiten (das Gaffen und Halsgerenke, das jähe Verstummen des Kirchenvolks, als das Kind im Baß zu singen anhob), wollen wir dennoch festhalten, daß kein Kommunikant so fromm und lauter das Jesulein in sein Herz kämmerchen treten ließ als unser Elias Alder. Beim anschließenden Mahl im Gasthaus zum Waidmann war der Bub aber schon wieder verschwunden, und für die Zukunft hielt es die Seffin so, daß er zwar die Messe besuchen, jedoch die Kirche erst beim zweiten Kyrie betreten und noch vor dem Segen des Kuraten wieder zu verlassen hatte. Als Platz wies sie ihm die hinterste Bank der Epistelseite, dort, wo die tabakkäuenden Greise ihr Sonntagsnickerchen zu halten geruhten.
Wir richten unsere Augen wieder auf die Mutter unseres Helden, von der wir sagten, daß sie aufgrund ihres abnormen Kindes den Lebensmut verloren hatte. Diese Behauptung soll durch eine Episode untermauert werden, die sich am Festo Trinitatis desselbigen Jahres zutrug.
Am Festo Trinitatis wurde Kirchweih abgehalten, und das Fest endete zumeist in wüsten Händeln, gegenseitigen Beschimpfungen und durchaus blutigen Scharmützeln. An keinem anderen Tag des Jahres traf sich die ganze Bauernschar auf einem einzigen Flecken versammelt, nämlich auf der Bündt vor dem Kirchlein. Und an keinem Tag trank man so wüst in sich hinein als eben am Kirchweihtag, denn es gab Kirschgeist umsonst.
Das Fest begann mit einem Amt im Freien. Den Altarbezirk umgab ein lieblich gesteckter Blumenteppich aus Margeriten- und Löwenzahnblüten. In den Teppich waren die beiden Worte AVE MARIA gewirkt worden, doch hatte sich nachts eine Kuh in der Kirchenbündt herumgetrieben und nun klebte auf dem Buchstaben »R« eine fette, saftige Klatter. Das betrübte den Kuraten, der ein marianisch geprägter Gottesmann war und als junger Mann sogar der Jünglingskongregation vom Herzen Mariä angehört hatte. Der Kurat versuchte, den Buchstaben wieder herzustellen. Das rochen die Ministranten und hoben bei der Wasserreichung ihre Nasen wenig demutsvoll von den Händen des Kuraten ab. In allem, es war ein ergreifendes Hochamt, und beim feierlichen Segen mit der Monstranz grölten die Bauern das Tedeum so ausgelassen, als sängen sie schon ein Trink- oder Wanderlied.
Nach dem Amt begann das eigentliche Fest. Der Dorflehrer hatte mit den Kindern eine nimmer endende Ode auf das hochlöbliche Kaiserhaus einstudiert, dessen Verse von einem Mann stammten, der uns später noch des öftern wiederbegegnen wird. Er hieß Köhler Michel, wurde drum Köhler genannt, weil er die Kohlgrub im Weiler Altig befeuerte. Ein jedes Kind durfte zwei Strophen aus dem gewaltigen Poem rezitieren und das Gesagte in einer lebenden Szene darstellen. So auch Elias. Als die Reihe an den Elias kam, zogen etliche Personen bereits weingeistige Grimassen, was den Eklat noch um einiges steigerte. Der Junge trat vor das Publikum – ein Margeritenkränzlein im Haar – und fing an zu rezitieren. Als er mit warmer und hochtheatraler Baßstimme zu reden anhob, brach die Bauernschar in ein so entsetzliches Gelächter aus, daß es bis nach Götzberg hinabschallte. Elias brachte keine Silbe mehr vom Mund und starrte mit weit aufgerissenen Augen in die grelle Menge, die ihrerseits in das grelle Gelb seiner Pupillen starrte. Die Seffin bekam plötzlich Atemnot und brach vor aller Augen zusammen. Elias stand noch immer angewurzt, so lange, bis ihn der Dorflehrer endlich vom Holzgerüst herunterhob. Das chaotische Gebrüll – einige Vornehmtuer schrien TACKAPO! TACKAPO! – beruhigte sich erst, nachdem der hochberühmte Feuerschlucker Signor Foco das Gerüst bestiegen hatte. Während der feurigen Kaskaden des Signor Foco erinnerte man sich scherzend an den Schwefelsonntag des Jahres 1800, wies lachend auf die zweifach gefütterten, eisenverkeilten und zwölfangligen Flügeltüren, und der blinde Haintz Lamparter, der damals sein Augenlicht verloren, bedauerte laut die gute alte Zeit. Seit der Kurat Benzer nicht mehr am Leben, sei in Eschberg einfach nichts mehr los. Er tat einen Seufzer und tappte geduldig nach seinem Schoppen.
In der Folgezeit ging es mit der Agathe Alder, der Seffin, erschreckend bergab. Sie wusch sich nicht mehr, kochte wochenlang nichts anderes als Grießmus, fraß und stopfte das stehengelassene Mus in sich hinein, wurde fettleibig und im Gesicht weiß wie Speck. Ihren Seff mochte sie nicht mehr beschlafen, und