Psych. Anpassungsreaktionen von Kindern und Jugendlichen bei chronischen körperlichen Erkrankungen. Manfred Vogt

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       1.3Chronische körperliche Erkrankungen mit multiplen lebenslänglichen Einschränkungen

       1.3.1Spina bifida

       Klinisches Krankheitsbild

      Spina bifida stellt die häufigste Fehlbildung des Nervensystems dar. Dabei schließt sich das Neuralrohr in der 3. bis 4. Schwangerschaftswoche nicht oder nur unvollständig. Ausprägung, Lokalisation und damit verbundene Beeinträchtigungen variieren stark. Die genaue Ursache von Spina bifida ist unklar, es wird aber ein Zusammenhang mit Folsäuremangel in der Schwangerschaft vermutet. Aktuell wird in Deutschland bei 1.000 bis 2.000 Geburten ein an Spina bifida erkranktes Kind entbunden (Muntau 2007).

      Kinder mit Spina bifida leiden häufig an mindestens einer der folgenden Begleiterkrankungen: Chiari-Syndrom (Entwicklungsstörung mit Kleinhirnverschiebungen), Tethered Cord (krankhaft angeheftetes Rückenmark) sowie Hydrocephalus (übermäßige Liquorproduktion mit Resorptionsstörung). Zu den multiplen Folgen zählen Blasen- und Mastdarmstörungen (und folglich Inkontinenz), Defizite im motorischen, sensiblen und vegetativen Bereich, Asymmetrien des Körperwachstums und Fehlstellungen von Füßen, Knien und Hüfte, kognitive Defizite, Epilepsie oder ein verfrühtes Einsetzen der Pubertät (Bremer 2003). Sofern ausgedehnte Myelozelen chirurgisch nicht behandelt werden können, kommt es häufig zu einer auf einige Monate bis wenige Jahre begrenzten Lebenserwartung und/oder schweren Mehrfachbehinderungen (Neuhäuser 2006).

      Die medizinische Therapie ist abhängig von der Ausprägung und der Lage des Defekts. Geschlossene Defekte ohne funktionelle Einschränkungen bedürfen mitunter keiner Therapie. Offene Neuralrohrdefekte sollten innerhalb von 48 Stunden nach der Geburt operativ geschlossen werden, um Infektionen zu vermeiden. Zudem kann das Einsetzen eines Shunts (operativ geschaffene direkte Verbindung einer Arterie und einer daneben oder in der Nähe liegenden Vene) dabei helfen, Liquor abzuleiten. Auch eine physio- und ergotherapeutische Behandlung kann indiziert sein (Neuhäuser 2006).

       Psychische Folgen

      Spina-bifida-Patienten leiden infolge ihrer Erkrankung häufig an Störungen der Aufmerksamkeit, Bewegung, Sprache sowie der Lese- und Rechenfähigkeit (Dennis a. Barnes 2010), wobei das Risiko bei Kindern mit einem Hydrocephalus besonders hoch ist (Zielińska, Rajtar-Zembaty a. Starowicz-Filip 2017). Der Intelligenzquotient der Betroffenen liegt im Durchschnitt unter dem Normwert, weshalb im Vergleich zu gesunden Gleichaltrigen seltener höhere Bildungsabschlüsse erzielt werden. Generell befürchten die Betroffenen, schulisch relevante Ziele nicht zu erreichen (Zurmöhle et al. 1999). Doch nicht nur ein niedrigerer Schulabschluss schränkt die Berufsmöglichkeiten der Betroffenen ein. Denn eine spätere Berufstätigkeit hängt oft davon ab, ob eine mindestens durchschnittliche Intelligenz vorhanden ist, ob ein Shunt erforderlich und eine eigenständige Mobilität ohne Rollstuhl gegeben ist und ob visuelle Einschränkungen und Epilepsie vorliegen (Oakeshott a. Hunt 2006).

      Bei Patienten mit Spina bifida korrelieren psychische Anpassungsprobleme mit der Schwere der Beeinträchtigung. Insbesondere Mädchen zwischen zwölf und 16 Jahren leiden häufiger an depressivem Rückzug. Über die Hälfte der Befragten befürchtet, aufgrund ihrer Inkontinenz andere zu belästigen (Zurmöhle et al. 1999). Auch das Selbstkonzept der Betroffenen kann massiv eingeschränkt sein: Betroffene fühlen sich bezüglich ihrer kognitiven, körperlichen und sozialen Fähigkeiten weniger kompetent und zudem weniger attraktiv als gesunde Gleichaltrige (Appleton et al. 1994; Shields, Taylor a. Dodd 2008). Und tatsächlich sind Kinder mit Spina bifida häufig sozial unreifer, haben weniger Kontakte zu Gleichaltrigen außerhalb der Schule, sind weniger körperlich aktiv, weniger schulisch kompetent, haben häufiger Konzentrationsprobleme und brauchen mehr Führung durch Erwachsene (Holmbeck a. Devine 2010). Menschen mit Spina bifida erreichen die Meilensteine der Entwicklung im Durchschnitt deutlich später (Holmbeck et al. 2003).

       1.3.2Skoliose

       Klinisches Krankheitsbild

      Der Begriff Skoliose stammt vom griechischen Wort »skolios« ab und meint »verkrümmt«. Bei der Skoliose sind Abschnitte der Wirbelsäule um mindestens 10 Grad verkrümmt, wodurch Fehlstellungen in der Sagittal- und Horizontalebene auftreten. In wenigen Fällen sind primäre Erkrankungen wie Tumoren, Neurofibromatose und Morbus Scheuermann für die Ausbildung einer Skoliose verantwortlich. Bei etwa 80 % der Betroffenen handelt es sich jedoch um eine idiopathische Skoliose, d. h., eine Ursache ist auch nach umfangreicher Diagnostik nicht genau zu benennen. Vermutlich führen eine Anomalie des Bindegewebes, neurologische Auffälligkeiten und eine genetische Prädisposition zur Ausbildung der Erkrankung. Etwa 2 % aller Frauen sowie 0,5 % aller Männer sind betroffen, lediglich ein kleiner Teil der Erkrankten muss jedoch behandelt werden (Stücker 2010). Im Jugendalter liegt die Prävalenz bei 2 bis 4 %, wobei Mädchen deutlich häufiger von schwereren Krümmungen betroffen sind (Roach 1999).

      Bei der initialen Diagnostik berichten die Patienten selten über Schmerzen. Es werden primär Schiefhaltungen, Deformitäten des Brustkorbs oder Asymmetrien von Schulter und Taille beim Vorbeugetest festgestellt. Abgesehen von Röntgenaufnahmen werden neurologische Untersuchungen zur Sicherung der Diagnose durchgeführt.

      Der Krankheitsverlauf kann zum Zeitpunkt der Diagnose durch die Krümmungswinkel abgeschätzt werden. Aus der initialen Krümmung sowie der Verlaufsprognose ergeben sich verschiedene Schweregrade. Bei sehr leichten Formen sind die Verkrümmungen teilweise so gering, dass neben einer regelmäßigen ärztlichen Kontrolle keine weitere Therapie indiziert ist. Schwere Formen bedürfen einer konservativen Therapie, v. a. Gipsdressionen und bei älteren Kindern Korsette, da es zu massiven Fehlstellungen, Schmerzen und aufgrund eines möglicherweise komprimierten Brustkorbs zu Atembeschwerden sowie einem überlasteten Herzen kommen kann. Bei 85 % der jüngeren Kinder ist eine chirurgische Behandlung indiziert, da sich die Symptomatik mit fortschreitendem Wachstum verschlimmern kann. Auch Jugendliche werden teilweise operativ versorgt.

      Die Prognose unterscheidet sich deutlich je nach dem Winkel der primären Krümmung, der Progredienz der Erkrankung, dem Alter bei Diagnosestellung, den Auswirkungen auf Lunge und Herz etc. (Stücker 2010). Auch nach einer Therapie mit Operationen oder Korsetten leiden die Betroffenen im Langzeitverlauf signifikant häufiger unter degenerativen Bandscheibenerkrankungen und Rückenschmerzen und weisen zudem eine leicht verringerte Funktionalität des Rückens auf (Danielsson a. Nachemson 2003).

       Psychische Folgen

      Skoliose-Patienten leiden häufig unter ihrem offensichtlich von der Norm abweichenden Körperbau. Kritisch ist überdies, dass die Erkrankung besonders häufig im Jugendalter diagnostiziert wird, also zu einem Zeitpunkt, an dem sich das körperliche Selbstkonzept stark verändert und die Konformität mit Gleichaltrigen an Relevanz gewinnt (Eliason a. Richman 1984). Hinzu kommt, dass ein Teil der Betroffenen unter Schmerzen und massiven funktionalen Defiziten mit dringender Therapieindikation leidet. Dies wiederum ist mit regelmäßigen Arztbesuchen sowie dem monate- oder jahrelangen Tragen eines Korsetts verbunden – und das bei unsicherer Prognose und großen Einbußen in der Lebensqualität. Folglich herrscht eine erhöhte Prävalenz von Depressionen, Ängstlichkeit, eingeschränkter Autonomieentwicklung des Jugendlichen sowie Hemmungen in der Kontaktaufnahme zu Gleichaltrigen vor (Reichel a. Schanz 2003). Betroffene nehmen ihre physische Gesundheit verglichen mit altersgleichen Gesunden als deutlich schlechter wahr. Weibliche Patienten berichten als Erwachsene von einem negativen Körperbild, gehen häufiger zum Arzt und lassen sich öfter krankschreiben (Mayo et al. 1994). In weiteren Studien konnte nachgewiesen werden, dass auch männliche Jugendliche ihr Körperbild signifikant schlechter bewerten. Sie sorgen sich, ihr Körper könne sich nicht normal entwickeln, konsumieren beinahe doppelt so viel Alkohol wie gleichaltrige Jugendliche und leiden zehnmal häufiger