Die Netflix-Revolution. Oliver Schütte

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unterscheiden. Immer noch unterlagen die Kabelanbieter nicht den strikten Auflagen der staatlichen Stellen. Die erste Serie von HBO musste also mehr an nackter Haut und Gewalt enthalten, als die Zuschauer sonst zu sehen bekamen.

      Der Chef der Firma Jeff Bewkes ging auf die Autoren zu, die bislang für die klassischen Sender geschrieben hatten. Er fragte sie, ob sie nicht Ideen im Kopf hätten, die sie bisher nicht unterbringen konnten. Schräge Konzepte mit außergewöhnlichen Figuren. Einer der Drehbuchautoren schlug ihm vor, eine Serie in einem Hochsicherheitsgefängnis spielen zu lassen. Er wollte realistische Figuren, die aus Gangmitgliedern, Mördern und Neonazis bestehen sollten.

      Es war nur allzu verständlich, dass die klassischen Sender dankend abgewunken hatten.

      Und Jeff Bewkes sagte zu, denn dies war genau das, was die Zuschauer bei ABC, CBS, NBC und Fox nicht zu sehen bekamen.

      1997 wurde OZ von Tom Fontana ausgestrahlt. Das Feuilleton reagierte gespalten, und das Publikum war zurückhaltend. Aber die Serie machte deutlich, was HBO erreichen wollte.

      Und dieses Ziel manifestierte sich auch in dem Slogan, mit dem der Kabelsender fortan sein Programm bewarb: It‘s Not TV. It‘s HBO.

      Zwei Jahre später erschien eine weitere neue Produktion über einen Mafiaboss und seine Familie. Tony Soprano schlägt Menschen brutal zusammen, betrügt seine Frau, dealt mit Drogen und bringt einen Kronzeugen um. Die Zuschauer waren begeistert. Nicht nur unterschied sich The Sopranos in seinem Realismus von der sonstigen Fernsehware, sie erzählte auch tief gehend und ohne Kompromisse.

      Es ist der Beginn des sogenannten »Goldenen Zeitalters« der Serie. Schon vorher hatte HBO Sex and the City herausgebracht. Vier Freundinnen in New York geben in dieser Geschichte offen und frisch ihre Schwierigkeiten mit Sex und mit Männern preis. Diese Produktionen waren für HBO so erfolgreich, dass nicht nur der Kabelsender selbst mit mehr Serien an den Start ging, sondern dass auch viele andere Konkurrenten mit attraktiven Formaten erschienen.

      In den kommenden Jahren folgten weitere Serien, die zum »Quality-TV« gezählt werden: Six Feet Under, The Wire und True Blood. Sie zeichnen sich durch einen harten Realismus (The Wire) aus und vor allem durch die Originalität der Grundidee: Eine Familienserie in einem Beerdigungsinstitut (Six Feet Under) und die Liebesgeschichte zwischen einer jungen Frau und einem Vampir (True Blood).

      Und im Jahr 2011 ging HBO mit einer Adaption der Fantasy Reihe A Song of Ice and Fire von George R. R. Martin an den Start: Game of Thrones. Die Saga wurde schnell zu einem kulturellen Phänomen. Sie wurde mit Preisen überhäuft und von den Zuschauern zu den Ausstrahlungsterminen sonntags sehnsüchtig erwartet. Vor allem führte GoT, (wie die Serie allgemein abgekürzt wird) dazu, dass die Zahlen der illegalen Streams in der Welt stark anstiegen.

       Zur Lage der Fernsehnation

      Die Geschichte des Fernsehens ab der Jahrtausendwende ist von zwei unterschiedlichen Entwicklungen geprägt. In Amerika begann mit der Serie The Sopranos eine neue Zeitrechnung. Dahinter steckte für alle Pay-TV-Sender eine simple wirtschaftliche Strategie. Durch die Qualitätsserien konnten sie Kunden gewinnen und im Zuge dessen ihre finanziellen Ressourcen ausbauen, was ihnen ermöglichte, weiter in ihre eigenen Inhalte zu investieren. Die Serien kennzeichnete vor allem, dass ihre Figuren nicht mehr nur charmante Sympathieträger waren. Sie konnten als Arzt drogensüchtig sein (wie in House), Drogen herstellen (Breaking Bad), Menschen umbringen (The Sopranos oder auch Dexter). Ausnahmen in der Vergangenheit wie J. R. Ewing in Dallas waren Normalität in den neuen Fernsehserien Amerikas.

      Hierdurch änderte sich ebenfalls das Bild in der Öffentlichkeit, was das Format betraf. Serien wurden nun im Feuilleton besprochen und waren Anlass für intellektuelle Debatten. Auch die frei empfangbaren Sender sprangen auf den Zug auf und boten ab sofort anspruchsvollere Programme. Zwar konnten sie ihre Limitationen, was die Darstellung von Sex und Gewalt anlangte, nicht ändern, aber mit Grey’s Anatomy, 30 Rock und The Big Bang Theory gelang ihnen, aus dem sonstigen Serienallerlei herauszustechen.

      In Nordamerika änderte sich durch diese Qualitätsserien das Verhältnis der Zuschauer zum Fernsehen grundlegend. Sie wurden nicht nur als banale aber liebgewonnene Unterhaltung wahrgenommen, sondern als kultureller Beitrag. Sie waren eine intellektuelle Herausforderung.

      In Deutschland hingegen hatte der Kampf um die Quote, der zwischen den öffentlich-rechtlichen und den privaten Sendern stattfand, zu keiner Qualitätssteigerung geführt. Die Senderfamilie ProSiebenSat.1 war 2003 von einer Investmentfirma übernommen worden, die einzig und allein das Ziel hatte, die Firma möglichst bald gewinnbringend zu verkaufen. Sperrige Formate wurden gestrichen, teure TV-Movies nicht mehr produziert. Alles unterlag dem Diktum, den Gewinn zu steigern, damit das Verkaufsobjekt tunlichst attraktiv aussah. Das gelang auch, denn das Investment von 500 Millionen Euro verwandelte sich bis zur Veräußerung auf drei Milliarden Euro, als die Firma drei Jahre später versilbert wurde. Aber der Verkauf änderte nichts am Inhalt, stattdessen kamen die Sender vom Regen in die Traufe. Die nächsten Besitzer waren mehrere Private-Equity-Unternehmen. Seit 2009 befinden sich die Marktanteile von Sat1 im freien Fall.

      Und auch die RTL-Familie stand von Anfang an unter der Maßgabe, möglichst finanziell erfolgreich zu sein. Dass die Qualität des Programms zunehmend abnimmt, ist eine schleichende Entwicklung, die ab 2010 deutlich zutage tritt und sich in den sinkenden Marktanteilen seit 2011 zeigt.

      RTL kämpft heute mit dem Dschungelcamp, Blaulichtreport und Deutschland sucht den Superstar um die Gunst der Zuschauer. Sat1, inzwischen mit seinen Marktanteilen gegenüber dem privaten Konkurrenten weit abgeschlagen, versucht sich mit Stolz und Stütze, Anna und die Liebe und Voice Kids.

      Der Grund liegt darin, dass die privaten Sender, um wirtschaftlich erfolgreich zu sein, ein großes und deshalb breites Publikum brauchen. Dies scheint in den Augen der Macher mit komplexen Erzählungen oder »schweren Themen« nicht realisierbar zu sein. Die Senderverantwortlichen mussten schmerzlich erkennen, dass sie sich die Preise für kulturell wertvolle Produktionen zwar ins Regal stellen konnten, dass die Eigentümer sich aber mehr für den Gewinn interessieren. Diese Erkenntnis sickerte in den Nullerjahren endgültig ins Bewusstsein und führte dazu, dass auch hierzulande, das »Least Objectionable Programing« Einzug hielt.

      Das Zielpublikum der Privatsender kann heute und in Zukunft nichts anderes erwarten als einfache und oftmals billig hergestellte Ware. RTL hatte es 2015 mit der achtteiligen Qualitätsserie Deutschland 83 versucht, war dabei den Zuschauern aber gnadenlos gescheitert. Und das, obwohl die Serie auf den Berliner Filmfestspielen Premiere gefeiert und in den USA bereits erfolgreich gelaufen war. Die privaten Sender hatten sich in den Jahren zuvor ihr Publikum hart erarbeitet, das mit solchen durchaus komplexen, horizontal erzählten Serien nicht viel anfangen konnte. Dies führte dazu, dass bei der zweiten Staffel Deutschland 86 Amazon Prime einsprang und sie dort zuerst online ging.

      Dem Vorstandsvorsitzenden von ProSiebenSat.1 Thomas Ebeling war in einem öffentlichen Gespräch herausgerutscht, dass Teile des TV-Publikums »ein bisschen fettleibig und ein bisschen arm« seien. Seine Bemerkung schien sich auf die Zuschauer seiner eigenen Sender zu beziehen. Die Besitzer von ProSiebenSat.1 waren über so viel Offenheit nicht begeistert, und Ebeling nahm wenig später seinen Hut.

      In den Zehnerjahren steuerte die Entwicklung dahin, dass das Publikum, das anspruchsvolles Fernsehen suchte, nicht mehr einen der Privatsender einschaltete. Bis auf einzelne Ausnahmen (wie z. B. Vox mit Der Club der roten Bänder und Das Wichtigste im Leben) sind die Produktionen erzählerisch banal, und die Nachrichten erinnern an Boulevardzeitungen. Natürlich sind auch die Shows reine Unterhaltungsmaschinen, sie wollen nichts anderes sein. Weil den Verantwortlichen klar ist, dass die Werbeumsätze aufgrund der sinkenden Zuschauerzahlen im linearen Fernsehen zurückgehen werden, haben sie schon früh begonnen, in alternative Bereiche und da zumeist in Internetfirmen zu investieren. Bei ProSiebenSat.1 gehören billiger-mietwagen.de, moebel.de, Parship und Verivox dazu. Für 2019 strebt der Fernsehsender mit diesen Beteiligungen immerhin