Название | Moderne Geister: Literarische Bildnisse aus dem neunzehnten Jahrhundert |
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Автор произведения | Georg Brandes |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 4064066113728 |
4. Max Klinger in seinem Bett; er wirft sich im Schlaf unruhig auf seinem schmalem Lager herum. Auf dem Nachttisch liegt der Handschuh, aber über dem Haupte des Schlafenden schwebt er wieder, vom Traum zu einer ungeheuren Hand ausgedehnt, die nach dem Monde greift und droht, ihn vom Himmel herunterzureissen. Und sieh! links vor dem Bette beginnt das offene Meer; und draussen auf seiner Flut erheben sich mit wildem Geschrei und Geberden schwimmende, ertrinkende Gestalten, darunter Meerungeheuer, und noch weiter draussen nähern sich grosse, gekrümmte, angsteinflössende Handschuhhände. Kein Wunder, dass der Schlafende vor Schreck in dem Bette die Beine unter sich hinaufzieht.
5. Das Erwachen. Der Handschuh liegt ruhig auf dem Bett, aber der Künstler ist zusammengekauert, das Gesicht in die Hände gesenkt, und träumt wachend weiter: Eine weitgestreckte Landschaft mit Bergen im Hintergrund offenbart sich; im Vordergrund erheben sich über dem Handschuh phantastische, ganz mit Blumen bedeckte Traumbäume auf hohen, dünnen Stengeln. Unterhalb derselben, doch fern, fern auf einem Weg und nicht grösser als dass eine Fliege die Gestalt decken könnte, indessen an der charakteristischen Haltung leicht wieder erkennbar — die schöne Dame vom Skating-Rink.
6. Sturm auf dem Meere. Mitten auf der Flut ein Segelboot, vom Winde stark auf die Seite geworfen; aus dem Boote beugt sich die Gestalt des jungen Künstlers, mit einem ungeheuer langen Enterhaken versehen. Der Handschuh ist über Bord gefallen, es gilt, ihn aufzufischen. Wir sehen ihn sinken, fühlen die verzweifelte Anstrengung, ihn mit dem spitzen Eisen wieder zu erhaschen.
7. Wieder Wasser, doch wie verschieden! in grossen, sichern Rundungen und Voluten stilisirt, wie ein griechisches Basrelief. Ein Gespann Meerpferde im strengsten hellenischen Stil zieht langsam und majestätisch einen niedrigen Triumphwagen über die Wogen; den Sitzkasten bildet eine Muschel, die sich öffnet wie ein schwarzer, leuchtender Blumenkelch, und in ihr ruht blendend weiss — der Handschuh, der die Zügel hält und das Gespann lenkt.
8. Was ist dies? Zwei verzweiflungsvolle nackte Mannesarme, die sich durch eine Fensterscheibe Bahn gebrochen haben, dass sie in Scherben zu Boden fällt; die Hände greifen nach einem fortflatternden Gegenstand, der sich im nächtlichen Dunkel verliert. Ach, es ist wieder der Handschuh! Durchs Fenster ist er geflogen; eine hässliche unnatürlich grosse Fledermaus hat ihn in der Schnauze und schwebt mit ihm davon. Und vergeblich streckt der Phantasirende seine blutenden zerschnittenen Hände danach zum Fenster hinaus.
9. Da ist er wieder. Und diesmal besser verwahrt. Jetzt wird er nicht so leicht mehr entwischen. Ein geräumiger Saal. An allen Wänden hängende Tapeten; doch genauer betrachtet, sind diese Tapeten lauter vielfach vergrösserte, paarweis verbundene 6knöpfige Damenhandschuhe, die von der Decke bis zum Boden reichen. Mitten in diesem Saal ein kokettes Tischchen, das als Altar dient. Und auf dem Altar liegt der Schatz selber in natürlicher Grösse, fein, schmal, von allen Seiten sichtbar. Doch in einer Ecke des Gemaches ist die Tapete etwas unregelmässig; denn ein wildes Thierhaupt mit flammenden Augen hebt einige von den grossen Handschuhfingern in die Höhe und glotzt herein; es ist der Drache mit seinen hässlichen Klauen und dem geschlängelten Schweif, der das Heiligthum bewacht und den Schatz hütet.
10. Wieder eine flache, sandige Küste. Am Strande brennen zwei feine, antike Lampen auf hohen Stativen. Zwischen ihnen liegt auf einem Kissen der gefundene Handschuh und das Meer leckt zu ihm empor, ohne sich ihm jedoch mit der Dreistigkeit zu nähern, mit der es einst Knud des Grossen Fuss berührte. Im Gegentheil! der Ocean huldigt diesem Kleinod des Liebenden: all' die steigenden Wogenkämme spülen Rosen an den Strand, schleudern Rosen nach dem Handschuh; in allen Wellenfurchen fliessen sie; all' der gischende Wogenschaum löst sich in Rosen auf.
II.
Im Winter vor jener Frühlingsausstellung lernte ich in Berlin einen kleinen Kreis junger Künstler kennen. Sie wohnten, oder versammelten sich in einem Atelier, das sich im 5. Stock eines Hauses der aristokratischen Hohenzollernstrasse befand. Es war ein Eckhaus mit schöner freier Aussicht über das Schöneberger Ufer, aber diese Aussicht war auch das prächtigste an der ganzen Wohnung. Ein und derselbe grosse Raum diente als Atelier und Schlafzimmer. Die Möbel waren ein zerrissenes Sopha und ein mächtiger, mit losen Skizzenblättern, Mappen und Kaffeebereitungs-Requisiten bedeckter Tisch, dessen Grösse und Solidität ich eben im Begriffe stand zu beneiden, als ich entdeckte, dass es gar kein Tisch war und dass man nur über ein paar Holzblöcke Bretter gelegt hatte. An allen Wänden Studienköpfe, unter Gussow's Leitung ausgeführt, auch viele originelle Versuche.
Der Portier, der auf den wohlklingenden Namen Piefke hörte, sorgte für die Insassen des Ateliers wie eine Mutter. Selbst wider ihren Willen nahm er sich ihres Wohles an. Einer von ihnen hatte eine Reise vor und vermisste längere Zeit vorher seine schönsten Hemden. Herr Piefke war's, der sie bei Seite geräumt hatte, damit sie zu der Reise frisch gewaschen seien und sein Schützling sich unter den Fremden sehen lassen könne. Eigenthümlich genug wurde er zuletzt von der künstlerischen Atmosphäre im 5. Stock so angesteckt, dass er drunten in seinem Kellergelass selbst zu malen anfing, und das Gelungenste war, dass er wirklich etwas Talent besass, „mehr als manche Berühmtheit“, sagten die Maler. Ja, einer von ihnen hielt ein Gemälde von Herrn Piefke für das eines Kameraden, als er es eines Tages im Atelier aufgestellt fand. Ich selbst sah zwei Marinebilder von Herrn Piefke, Schiffe im Sturm darstellend, deren Interesse dadurch erhöht wurde, dass der Künstler niemals das Meer gesehen hatte, so dass die Phantasie um so grösseren Spielraum fand.
Einer von den jungen Malern ersuchte mich, ihm zu sitzen; dadurch lernte ich die Gesellschaft kennen. Es waren — selbstverständlich — lauter eifrige Nihilisten, Socialisten, Atheisten, Naturalisten, Materialisten und Egoisten. Sie docirten einstimmig Ansichten, die für die Gesellschaftsordnung und den Frieden des Nächsten höchst gefährlich waren. Sie huldigten der Politik der Pariser Commune; Jeden, der behauptete, dass er selbst, oder überhaupt Jemand, sich von einem andern Motiv als dem rücksichtslosesten Egoismus leiten lasse, verachteten sie als einen Heuchler, der sie zum Besten haben wollte. Sie waren, nachdem sie mich kennen gelernt, sehr überrascht über meine Zahmheit. Sie hatten sich etwas ganz andres erwartet. Sie fühlten Ekel (Verachtung ist ein zu schwaches Wort dafür) vor der ganzen anerkannten deutschen Kunst, vor der Akademie, ihren Mitschülern, den berühmten Namen (mit Ausnahme von Böcklin, Menzel und Gussow). Sie hatten das Leben durchschaut. Sie liessen Alles gehen, wie es wollte. Es gab nichts zu wirken und nichts zu hoffen. Es galt, so schmerzlos als möglich die Zeit todtzuschlagen; sie waren zu alt, um Leidenschaften zu hegen — darüber waren sie hinaus — zu blasirt, um Illusionen nachzujagen, zu kunstverständig, um sich selbst Genie zuzutrauen, zu stolz, um sich um Lob oder Ruhm zu kümmern; es galt, den einen Tag hinzubringen wie den andern: ein wenig zu malen, eine Partie Tarok zu spielen, recht lange zu schlafen. Kurzum sie waren jung, jung! im Beginn der Zwanzig, genusssüchtig, ehrgeizig, fanatisch für die Kunst begeistert, weissglühend vor Verachtung der Heuchelei, so leidenschaftslos, dass der eifrigste Anbeter der Indolenz unter ihnen erst vor Kurzem von den Folgen eines Selbstmordversuches, den er aus unglücklicher Liebe machte, geheilt worden war und so eifrig, das Evangelium des Egoismus zu predigen, dass sie in vollständigem Communismus lebten, einander halfen, für einander hungerten und einander liebten.
Sie waren Alle begabt; doch sobald man mit Einem von ihnen allein war, erzählte er sofort mit einem Gemisch von Zärtlichkeit und Ehrfurcht, dass Einer unter ihnen ein Genie sei. Er war ihr Stolz, ihre Bewunderung. Sie setzten ihre egoistische Freude darein, sein Lob nach allen Seiten auszuposaunen, überall und mit Jedem von seinen Arbeiten zu sprechen, ohne eine Silbe von ihren eignen zu sagen; fragte man nach diesen, so antworteten sie, das sei nur Broderwerb. Sie trugen ihren Benjamin auf den Händen und schworen, dass er den Ruhm aller jetzt lebenden deutschen Künstler in Schatten stellen werde. Mittlerweile ging er gross und schlank mit seinen dicht wachsenden, gekrausten, rothen Haaren still und verschlossen unter ihnen, stimmte mit einem Nicken, doch ohne sich weiter auszulassen, in ihre Theorien ein, im Voraus überzeugt, dass nur die extremste Anschauung die wahre sein könne und im Uebrigen so verloren in sein inneres Walten, so in Anspruch genommen von seinen fruchtbaren Träumen, so unablässig, fabelhaft productiv, dass er nur wenig