Название | Gesammelte Werke |
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Автор произведения | Isolde Kurz |
Жанр | Языкознание |
Серия | Gesammelte Werke bei Null Papier |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783962812515 |
In dieser jähen Wende lernte ich meine Mutter von einer völlig neuen Seite kennen, die sie aber späterhin bei allen schweren Schicksalsschlägen hervorgekehrt hat: die leidenschaftliche Frau, die jedes Unglück Jahre voraus beweinte, stand jedes Mal, wenn es wirklich eintraf, in der erhabensten Fassung da. Am Morgen nach unseres Vaters Tode fand ich sie, wie sie im Wohnzimmer, das sie sorglicher als sonst aufgeräumt hatte, dem Kanarienvogel das Wasser wechselte. Du sollst nicht mit uns leiden müssen, armes Tierchen, hörte ich sie sagen. War’s heldenhafte Selbstüberwindung oder vermochte auch sie den Tod nicht zu erfassen? Ich konnte es nie ergründen. Eine Gehobenheit lag über ihrem ganzen Wesen, die mich den schwersten Rückschlag fürchten ließ. Es kam keiner. Sie fasste sich ganz fest in die Zügel. Mit einem Blick übersah sie unsere unsäglich schwierige Lage und ihre Pflicht, das Ganze zusammenzuhalten. Jetzt zeigte sich erst recht die sittliche Macht ihrer Natur in der Wirkung auf ihre Umgebung, da die wilden Jungen trotz der Erziehungsfehler, die sie begangen hatte, nicht um Haaresbreite von dem engen Wege abwichen, auf dem es nun weiterzugehen galt. Die Jüngeren mussten im Heranwachsen auf all das verzichten, was sie den Ältesten hatten genießen sehen. Sie taten es, ohne zu murren. Es war ja das Selbstverständliche, aber das Selbstverständliche ist nicht immer das, worauf man mit Sicherheit zählen kann.
Das Alltagsleben renkte sich wieder ein. Aber eine Stille lag jetzt über dem Hause, in der die Stimme des Toten lauter zu den Seinigen redete als es je die des Lebenden getan hatte. Paul Heyse, der ihm in seinem letzten Jahrzehnt nahe Verbundene, nahm sich mit Freundestreue des geistigen Nachlasses, dem wir noch nicht gewachsen waren, an und gab schon im folgenden Jahr die gesammelten Werke heraus. Man hatte Korrekturen zu lesen, Texte zu vergleichen und Stoff für die Lebensbeschreibung herbeizuschaffen. Im Sommer 1874 übersandte sein alter Freund Mörike nach einer ergreifenden Begegnung mit mir in Stuttgart und einem darauffolgenden Besuch, den Mama und ich ihm in Bebenhausen machten, unseres Vaters Jugendbriefe, die zusammen mit denen Mörikes einen köstlichen, später von J. Bächtold bei der Herausgabe nicht völlig gehobenen Schatz bildeten. Dazwischen kamen neue Erschütterungen durch die wiederkehrenden schweren Krankheitsanfälle, die unseren Jüngsten mit steigender Gefahr heimsuchten. Die beiden Mediziner Edgar und Alfred konnten schon mit ärztlicher Hilfe beispringen und teilten die Nachtwachen mit der angstgequälten Mutter. Ich saß fast die ganze Zeit am zweiten Bande meiner Nievoübersetzung. Über den Ertrag war im voraus bestimmt. Der leere, schon einsinkende Hügel auf dem Friedhof, wo unsere Blumengrüße von der Sonne gedörrt und vom Regen zerklatscht wurden, sah mich bei jedem Besuch wie ein stiller Vorwurf an. Eine Zeit lang wartete ich, ob sich nicht die Heimat jetzt ihres verkannten großen Sohnes erinnern und ihm den späten Dank an seinem Grabe abtragen würde. Als aber alles still blieb, trat ich selbst mit einem Bildhauer in Unterhandlung. Und nun sollte das Denkmal auch so feierlich wie nur möglich sein, kein bloßer behauener Stein, sondern ein Stück atmender Kunst. Man einigte sich über die Kopie einer lebensgroßen antiken Muse in Sandstein auf hohem Sockel. Der geforderte sehr hohe Preis stand außer allem Verhältnis zu meiner Lebenslage, aber gerade das empfand ich wohltuend. Solch ein Totenopfer für den Abgeschiedenen, der sich nicht mehr daran freuen konnte, der mit einem Zehntel dieser Hingabe im Leben glücklich gewesen wäre, mochte wohl einer kühlen Vernunft widerstreiten, aber der erschütterten Seele war es ein Bedürfnis. Und auch die Vernunft wollte sich der materialistischen Zeitströmung zum Trotz nicht völlig überzeugen, dass zwischen dem Gestorbenen und uns kein Band mehr möglich sei; aus Träumen kam es oft wie ein tröstliches Zeichen. Schritte führten in das dunkle Land hinein, denen man einmal ruhig nachgehen konnte. Vielleicht dass sich dann von drüben eine Hand entgegenstreckte, deren Berührung wieder Schutz gab. Aber das, was hier noch übrig war und da unten lag in der unendlichen Vereinsamung des Grabes, ängstete die Vorstellung. Denn die Wohltat der Verbrennung, die er sich ersehnt hatte, gestatteten die Satzungen seiner Zeit noch nicht. Die Winterkälte der zufrierenden Erde wurde etwas Entsetzliches. Jeder Schritt auf der Eisbahn, die sonst das Winterparadies gewesen, schien fühllos über die verlassenen Toten wegzugleiten. Und jeder kalte Windstoß fuhr mit einem schaurigen Griff ins Herz:
Die weißen Flocken fallen dicht
Auf Dach und Mauern;
Ich drück’ ins Kissen mein Gesicht
Mit Schauern.
An einen