Название | Gesammelte Werke |
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Автор произведения | Isolde Kurz |
Жанр | Языкознание |
Серия | Gesammelte Werke bei Null Papier |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783962812515 |
Aber nach meiner Erfahrung kann keine innerlich gute Saat, die einmal gegrünt hat, spurlos untergehen. Wenige Wochen vor Ausbruch des Weltkriegs, wer klopft da eines Tages in München an meine Tür? Sonja, die seit vierunddreißig Jahren für mich Verschollene. Die lange Zwischenzeit versank im Nu vor der lebendigen Gegenwart, wir standen uns gegenüber, als ob wir uns gestern verlassen hätten. Sie war ganz und vollständig die alte, mit der schönen Würde ihrer Haltung und der Wärme ihres Herzens, nur dass sich durch die blauschwarzen Flechten einige weiße Fäden zogen und dass ihre hohe Gestalt leise vom Leiden berührt war, über das sie mit den Worten: il faut bien que j’aie quelquechose ergeben hinwegging. Vor dem Reliefbild meiner Mutter und der Büste meines Balde brach sie in eine solche Flut von Tränen aus, dass ihr feines Tüchlein schnell durchgeweint war und ich nicht Ersatz genug herbeischaffen konnte, um sie zu trocknen. Sie weinte um meine Toten, als ob es ihre eigenen wären! In Ebenhausen wohnte sie mit Tatjana, die nicht sofort mitgekommen war, weil sie, einsam und menschenscheu geworden, zuvor wissen wollte, ob ich sie noch liebte. Beide Schwestern waren verwitwet und, wie ich sehen konnte, wieder in beschränkter Lebenslage wie ehedem, aber noch immer durch und durch fürstlich in Gesinnung und Wesen. Sonja, die immer geistiger gewesene, hatte sich’s nicht nehmen lassen, aus der Ferne meinen Weg zu verfolgen und sich sogar Bücher von mir zu kaufen, die sie ja nicht lesen konnte. Wir verbrachten ein paar schöne Nachmittage, Unvergessliches zurückrufend, teils bei ihnen auf dem Lande, teils in der Stadt bei mir, wo mein Jugendfreund Mohl aus den frühen Tübinger Tagen, der nach vierzig in Russland verbrachten Jahren in München Anker geworfen hatte, um seine letzten Jahre neben mir zu verleben, zu seiner Freude Gelegenheit hatte, wieder einmal russisch zu sprechen, und auch mein Ohr an die lang vergessenen Laute sich wieder gewöhnte. Nur zu bald wurden die beiden zugeflogenen lieben Vögel durch den Kriegsausbruch hinweggesprengt. Aber der von allen Seiten losbrechende blindwütige Völkerhass vermochte die wiederverbundenen Herzen nicht mehr zu trennen. Sonja, die Tätige, Getreue, war es, die meinen Postverkehr mit dem italienischen Freunde, der mir mein verwaistes Haus in Forte dei Marmi brüderlich betreute, solange es in ihrer Macht stand, vermittelte. Man behauptet so gern, dass nur ein Volk die Treue kenne. Sie ist eine Wunderblume, aber freilich eine seltene, die überall wächst, wo Menschen wohnen.
Nun muss ich das Steuer wieder drehen, um aus dem vorweggenommenen Jahr 1914 in die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückzukehren.
Balde
Anfang 1882 neigte sich der kurze Lebenstag unseres Balde zum Ende. Vier Jahre lang hatte das damals noch so milde Klima von Florenz mit seinem kurzen sonnigen Winter und seinen gleichmäßig glühenden Sommern, die der Kranke in glückseliger Dankbarkeit am Golf von Spezia verbrachte, ihm die Widerstandskraft gestärkt. Unter Vögeln und Blattpflanzen, immer mit Alleinstudium beschäftigt, um den versäumten Schulunterricht zu ersetzen, hatte er als der geliebte Mittelpunkt des Hauses trotz der körperlichen Beschwerde, die sein schweres Herzleiden mit sich brachte, doch kein ganz und gar unglückliches Dasein geführt. Seine edle, noch halb kindliche Jünglingsgestalt mit den schönen, tief vergeistigten Zügen und dem Ausdruck einer unsagbaren jungfräulichen Reinheit und Zartheit ist das ergreifendste Bild, das mir die Erinnerungen meines Lebens zeigen. Sein Bruder Erwin hat ihn so in seinem letzten Sommer unter einem Limonenbaum sitzend mit dem Blick aufs Meer gemalt. Ich sehe ihn noch, wie er in seinen guten Stunden durch die Straßen von Florenz ging, häufig einen um den Arm gelegten Schal achtlos am Boden nachziehend, mit langsamem, vorsichtigem Gang, um das Herz nicht zu beunruhigen, aber innerlich tief lebendig und stets zu allerlei Humoren aufgelegt. Wie jenes Tages, wo er mit einem großen verschnürten Paket auf dem Arm eilig und ängstlich durch die Porta San Gallo zu gelangen suchte, an den Mautwächtern vorüber, die natürlich wissen wollten, was in dem Pack sei. Nichts, nichts, bitte lassen Sie mich vorbei, war die aufgeregte Antwort, ich habe nichts Zollbares. Jene bestanden auf ihrer Pflicht und nötigten den ertappten Schmuggler mit ihrer Hilfe die Schnüre abzuwickeln. Unter dem verschnürten Pack befand sich ein zweiter ebensolcher, der gleichfalls geöffnet wurde unter Baldes fortwährender Beteuerung, dass ja ganz gewiss nichts in dem Pack sei. Um so eifriger wurden die Zöllner, immer neue Schnüre abzuwickeln, bis in dem allerletzten und kleinsten Päckchen richtig das angegebene Nichts zum Vorschein kam. Der kleine Streich, zu dem auch die Zollwächter lachten –, o glückliche Zeit, wo die Organe der Obrigkeit das Lachen noch kannten –, machte ihm eine diebische Freude.
An meinen frühen literarischen Versuchen, die auch teilweise ihm zur Unterhaltung geschrieben waren, nahm er herzlicheren Anteil als die anderen Brüder; noch unlängst fand ich mit Rührung einen Stoß Blätter von seiner Hand mit Abschriften meiner damals entstandenen Märchen. Er war aber kein kritikloser Bewunderer, sondern sah mir scharf auf die Finger, denn er hatte sich