Название | Gesammelte Werke |
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Автор произведения | Isolde Kurz |
Жанр | Языкознание |
Серия | Gesammelte Werke bei Null Papier |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783962812515 |
Was man nicht deklinieren kann,
Das sieht man als ein Neutrum an, usw.
So blieb das Lernen immer ein Spiel unter anderen Spielen. Wir übersetzten kleine Übungsstückchen aus dem »Middendorf«, lasen eine Seite in L’Hommonds Viri Illustres und verfertigten sogar gereimte Knittelverschen in unserem Suppenlatein, alles mit dem gleichen Vergnügen, mit dem wir die uns überlassenen Rabatten anpflanzten, auf hohen Erntewagen fuhren, den ländlichen Pferden und Ochsen auf den Rücken kletterten, den Nachbarinnen beim Ausgraben der Kartoffeln halfen oder auf langen Spaziergängen, wobei man barfuß in kleinen Seen und Pfützen quatschen durfte, für Edgars Aquarium Salamander und Kaulquappen fingen. Das schönste aber war, im offenen Neckar zu baden, an seinen Weidenufern die ausgeworfenen Muschelschalen zu sammeln, in denen man sich die Farben anrieb, oder seine niedere Furt unter Josephinens Führung mit hochgeschürzten Kleidern zu durchwaten, um dann jenseits im Sirnauer Wäldchen sich auszutollen. Der eigentümliche Geruch des fließenden Süßwassers, der an den Neckarufern besonders stark war, hat sich mir aufs tiefste eingeprägt und erregt mir, wo ich ihm begegne, ein unbeschreibliches Jugend- und Heimatgefühl. In dem sonnbestrahlten, silbern rieselnden Neckar verehrte ich ein beseeltes höheres Wesen. Ich warf ihm ab und zu ein paar Blumen oder eine Handvoll glitzernder Perlen aus meiner Perlenschachtel hinein, und wenn ein Fisch aufhüpfte, schien mir das irgendwie ein gutes Zeichen. Er hatte aber auch noch ein anderes dämonisch wildes Gesicht, das ich schaudernd noch mehr liebte: dort an der nach Esslingen führenden bedeckten Brücke, die wir das Wasserhaus nannten, verbreiterte sich sein Lauf für mein Auge ins Unermessliche. Unter den Pfeilern schüttelte er wilde braune Locken, schnaubte und rüttelte an dem Bau, dass ich wie gebannt stand und kaum von der Brücke wegzubringen war. Am geheimnisvollsten aber erschien er mir in Esslingen selber, wohin wir oft durch das alte Wolfstor pilgerten. Dort stand ich in dem befreundeten Haus die ganze Zeit am Fenster und sah auf die stille Flut hinunter, die die Rückseite des Gebäudes unmittelbar bespülte. Ich war dann, während die Mütter auf dem Sofa saßen und Kaffee tranken, in Venedig, sah schwarzgeschnäbelte Gondeln, die ich aus Abbildungen kannte, und Marmorpaläste in feierlicher Pracht.
In meiner Vorstellung ist es in Obereßlingen immer Sommer gewesen. Wie es möglich war, uns während der langen Wintermonate in den engen Räumen zu halten, ist mir nicht erinnerlich. Unsere Lebhaftigkeit mag die dichterischen Gebilde, mit denen sich unser Vater trug, schwer genug beeinträchtigt haben und war die Ursache, dass er den Tag über nur selten das Kinderzimmer betrat, ja nicht einmal die Mahlzeiten mit der Familie teilte. Deshalb tritt auch seine Gestalt in meinen frühen Erinnerungen wenig hervor; sie wandelt nur manchmal ernst und hoheitsvoll über den Hintergrund.
O die Sommerseligkeit, als man selber noch nicht höher war als die reifen sonneduftenden Ähren, zwischen denen man sich durchwand, um die blauen Kornblumen und die flammend roten Mohnrosen herauszuholen. Wenn ich noch einmal nachempfinden könnte, was das Kinderohr bei den Schillerschen Versen:
Windet zum Kranze die goldenen Ähren,
Flechtet auch blaue Zyanen hinein –
an Fülle des Seins genoss! Die güldenen Halme, das satte Blau und Rot der Blumen sahen mich daraus noch schöner an, durch einen tiefen Goldton aus der Farbenschale der Poesie verklärt. Damals waren die Worte der Sprache keine rein geistige Sache, es haftete ihnen noch eine köstliche Stofflichkeit von den Dingen, die sie bezeichnen, an. Ich lebte und webte um jene Zeit in den Schillerschen Balladen. Die Götter Griechenlands, Die Klage der Ceres, Kassandra und vor allem Das Siegesfest waren mir die liebsten. Ihr glockenartiger Klang bezauberte mich, während ihre Gegenstände meine innere Welt bevölkerten. Selbst ein rein philosophisch gerichtetes Gedicht wie Das Ideal und das Leben war mir schon in meiner Frühzeit völlig geläufig und sogar ganz besonders teuer. Das Gedankliche darin, das ich noch nicht mitdenken konnte, empfand ich als ein dunkles prophetisches Raunen von höheren Dingen, und es wirkte poetisch, eben weil ich es nicht verstand. Zugleich hatte es auch eine erhebende Macht, wie ein unverstandenes, aber gläubig verehrtes Stück Sittengesetz. Ich hütete mich überhaupt, ein Gedicht zu zergliedern oder auch nur einem Worte nachzuforschen, dessen Sinn mir dunkel war. Denn das höhere Ahnen labte mich viel mehr als irgendeine tatsächliche Erkenntnis. Indem mir solche Verse im Heranwachsen immer gegenwärtig blieben, bemerkte ich es selber nicht, wie ich allmählich in das richtige Verständnis hinüberglitt. Ich glaube, dass unsere Mutter richtig geleitet war, als sie uns die Schillerschen Gedichte in einem so frühen Lebensalter in die Hände gab. Denn sie verbreiten neben einem reichen sachlichen Inhalt die hohe und reine Luft, worauf es doch für die Kindheit vor allem ankommt. Hernach mag sich das reifende künstlerische Bedürfnis seine Weide suchen, wo ihm am wohlsten ist. Dass meine erste Welt eine so schöne und weihevolle war, verdanke ich diesem Dichter vorzugsweise mit, obgleich er nicht ihr eigentlicher Schöpfer, sondern nur ihr Vermehrer und Erhalter gewesen ist. Die frühesten Eindrücke kamen mir aus den Homerischen Gesängen, die uns Mama, sobald wir nur geläufig lesen konnten, zunächst in prosaischer Bearbeitung, in die Hände gegeben hatte. Die griechische Götter- und Heldensage verband sich blitzschnell und unauflöslich mit unserer Vorstellung. Der Olymp mit allen seinen Insassen thronte leibhaftig in unserem Garten. Wir selber übten uns fleißig im Speerwerfen und Bogenschießen. In dem quatschigen gelben Obereßlinger Lehm bis an die Ellbogen wühlend, bauten wir die heilige Troja auf, schleppten aus dem Röhrenbrunnen zahllose Wassereimer herbei, um die Windungen des Skamanderbettes zu füllen. Dann verwandelten wir uns selbst in Helden und Götter, und um die Mauern Trojas wurde mit Macht gerungen. Ich trug wie die Brüder Helm und Schild und Lanze aus Pappdeckel und Goldpapier sowie ein mit dem Medusenhaupt geschmücktes Panzerhemd und warf den dicken Alfred, wenn er als Ares anstürmte, im Nahkampf nieder, wobei er vorschriftsmäßig brüllte »wie zehntausend Männer«. Dieser schöne Knabe, der sich selber Butzel nannte, war nach der Schilderung meiner Mutter bis ins zweite Lebensjahr das putzigste und liebenswürdigste Kerlchen gewesen; nach einer Kinderkrankheit aber hatte ihn plötzlich eine nicht zu bändigende Wildheit und Unart