Die großen Literaten der Welt. Katharina Maier

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Zwischen 1846 und 1850 erschienen Melvilles ›Reisebücher‹, die auf seinen eigenen Erlebnissen basieren und mit denen er bekannt wurde; sie trugen ihm lange Zeit den Ruf eines lesenswerten Reiseschriftstellers ein, der auf der Welle der allgemeinen Beliebtheit der Reiseliteratur im 19. Jahrhundert schwamm. Die Bücher brachten Melville genug ein, dass er sich 1850 auf einer Farm in Massachusetts niederlassen konnte, wo er dreizehn Jahre lang verweilte. Doch schon in den ´50er Jahren begann die Popularität des ›Reiseschriftstellers‹ zu schwinden; das Erscheinen von Moby Dick 1851 konstituierte sowohl den Gipfel von Melvilles Schaffen als auch den Beginn seines nachlassenden Erfolgs. Der Roman kam bei der US-amerikanischen Kritik nicht an; die düstere Welt von Moby Dick, in der der sich selbst überschätzende Mensch den Kampf mit dem Schicksal aufnimmt und letztendlich verliert – wenn auch heroisch-ungebrochen –, passte nicht zu dem proklamierten US-Optimismus der Zeit. Außerdem stieß Melvilles Erzählstil, der jegliche Gattungsgrenzen sprengte, auf Irritation. Der nachfolgende Roman Pierre oder im Kampf mit der Sphinx (Pierre, or the Ambiguities, 1852), löste durch die verwirrend intensive, hochgradig religiöse Symbolik und die unverblümte Thematisierung problematischer Sexualität geradezu Schockreaktionen aus. Dies führte dazu, dass Melville wieder verschiedene berufliche Tätigkeiten aufnehmen musste (z. B. als Vortragsreisender und als Zollinspektor im Hafen von New York), mit seiner Prosa zum Zeitgeschmack zurückkehrte und sich in den letzten Jahren mit angemessenem Erfolg der Lyrik zuwandte.

      Während Moby Dick ohne Zweifel als Melvilles Meisterwerk bezeichnet werden kann, sind seine frühen Reisebücher essentiell für die Entwicklung seines Stils, den er in seinem großen Seefahrtsroman zur Perfektion brachte. Nicht nur erforscht er hier bereits die Thematik der Begegnung mit anderen Kulturen, die ihm als Medium der Zivilisationskritik sowie als Quelle exotischer Symbolik diente, und experimentierte mit dem uralten Motiv der Seereise als Lebensreise, das das Kernthema seines Schaffens konstituiert; Melville übte sich in den Reisebüchern auch in der für ihn charakteristischen Verknüpfung von Erlebtem und Fiktivem. Des Weiteren kann die Episodenform dieser Texte als eine Vorstufe der mosaikhaften Struktur von Moby Dick betrachtet werden, der vom Reisebericht über Forschungsergebnisse, dem Essay und der Predigt bis hin zum dramatischen Monolog alle Spielarten des Erzählens beinhaltet und so ein amerikanisches Epos konstituiert, das Abenteuer- und Bildungsroman, Drama, philosophische Reflexion und lyrische Diktion in sich aufnimmt. Diese Sprengung der Gattungsgrenzen führt zu einer Offenheit des Romans, die neu für das 19. Jahrhundert war, und gleichzeitig das Hauptthema Moby Dicks formal umsetzt: Captain Ahab, der das zentrale Symbol des Romans, den Weißen Wal, auf die Inkarnation des Bösen reduziert, steht für die dogmatische, monomane Weltsicht des sich selbst absolut setzenden Individuums, das nichts als seine eigene Wahrheit kennt. Der Ich-Erzähler Ishmael dagegen stellt eine demokratisch-humanistische Alternative zu Ahab dar; auf seiner Initiationsreise auf der Peqod, Ahabs Walfänger, lernt er, andere Perspektiven in die eigene zu integrieren (als pars pro toto dafür steht seine Beziehung zu dem Südseeinsulaner Queequeg, des fatalistischen noble sauvage1). Ishmaels Offenheit äußerst sich auch in seiner Wahrnehmung des Weißen Wals; er sieht nicht nur das Dämonische in Moby Dick, sondern auch das Sublime und die Kraft der Natur, die der Wal verkörpert. Sein Wirklichkeitsbegriff – sowie der, den der Roman an sich proklamiert – ist weiter und offener als der des Captains und stellt somit die Antwort auf Ahabs selbstzerstörerische Jagd und promethische Auflehnung gegen Natur und Schicksal dar. Diese verliert dennoch nichts von ihrem dämonischen Heroismus. Trotz allem steht die faszinierende Figur Ahabs, ein amerikanischer Prometheus, im Mittelpunkt des Romans. Seine Jagd auf den Wal, der ihn verstümmelt hat, kann als archaisch-mythischer Kampf des Menschen mit der übermachtigen elementaren Natur (und metonymisch gesprochen mit dem Schicksal an sich) gelesen werden, aber auch als Allegorie der expansionistischen, fortschrittsoptimistischen US-amerikanischen Geisteshaltung. Ahabs »ins Kosmische gesteigerte Individualität«1 verbindet das Heroische mit dem Grotesken und fasziniert nicht zuletzt durch seine episch-poetische Sprache, die von einer ungeheuren bildhaften Dichte ist und auf William Shakespeare (1564–1616) als ihren Ahnherren zurückblicken kann; die Metamorphose Shakespeare’scher Diktion in eine distinktiv neue Sprache, die als amerikanisch bezeichnet werden kann, und ihre Vermischung mit Melvilles eigener rhetorischer Stärke macht einen weiteren Reiz von Moby Dick aus und ist eine Erklärung für seinen immensen Einfluss auf die amerikanische Literatur. Besonders hervorstechend jedoch ist Melvilles Kreation eines amerikanischen mythischen Helden, dessen Problematik ihm von Anfang an inhärent ist; so schreibt der US-Literaturkritiker Harold Bloom über Ahab: »He is the hero as American, our tragic Don Quixote.«2

       Wichtigste Werke:

      Typee. A Peep at Polynesian Life during a Four Months’ Residence in a Valley of the Marquesas … (Paipi. Ein Südsee-Erlebnis, 1846)

      Omoo. A Narrative of Adventures in the South Sees (Omu. Wanderer in der Südsee, 1847)

      Mardi: and a Voyage Thither (1849)

      White-Jacket; or, The World in a Man-of-War (Weißjacke oder Die Welt auf einem Kriegsschiff, 1850)

      Moby-Dick; or, the Whale (Moby Dick oder Der weiße Wal, 1851)

      Pierre, or the Ambiguities (Pierre oder Im Kampf mit der Sphinx, 1852)

      Billy Budd, Sailor. An Inside Narrative (Billy Budd. Vortoppmann auf der Indomitalbe, 1924)

      1 Die Figur des noble sauvage, des ›edlen Wilden‹, kann auf eine lange Tradition zurückblicken, die im 18. Jahrhundert etabliert wurde, wo bereits – etwa von Voltaire (1694–1778) und Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) – diese Gestalt zum Zwecke der Zivilisationskritik eingesetzt wurde.

      1 Hubert Zapf. »Romantik und ›American Renaissance‹«. in: Hubert Zapf (Hg.): Amerikanische Literaturgeschichte. Stuttgart/Weimar: Metzler 2004. S. 85–153. hier: S. 137.

      2 »Er ist der Held als Amerikaner, unser tragischer Don Quixote.« (meine Übersetzung) aus: Bloom, Harold: Genius. A Mosaic of one hundred exemplary creative minds. New York: Warner Books 2002. S. 307.

      WALT WHITMAN

      (1819–1892)

       Das Lied meiner selbst – Der Prophet der Demokratie und das universale Ich

       Teilen sich Herman Melville (1819–1892) und Mark Twain (1835–1910) den Verdienst, mit Moby Dick (1851) bzw. Huckleberry Finn (Adventures of Huckleberry Finn, 1855) auf dem Gebiet des Romans das US-amerikanische Nationalepos verfasst zu haben, so erfüllt diese Funktion auf dem Gebiet der Lyrik das Lebenswerk Walt Whitmans: seine monumentale Gedichtsammlung Grashalme (Leaves of Grass, Endfassung 1881/82). Mit seinen Gedichten hat Whitman eine spezifisch US-amerikanische Lyrik begründet, die mit ihrem humanistisch-demokratischen und zugleich individualistischen Gestus das amerikanische Selbstverständis sowohl reflektierte als auch stark beeinflusste.

      Der Begründer der US-amerikanischen lyrischen Tradition war ein wahrer Autodidakt. Walt Whitman wurde als Sohn eines Zimmermanns in West Hill auf Long Island geboren und war nach einer nur kurzen Schulzeit als Buchdrucker, Journalist und Lehrer tätig. Sein Wissen eignete er sich selbst an, und seine Lektüre der großen Klassiker war umfassend, aber unstrukturiert. Ab 1841 arbeitete Whitman als Redakteur von Zeitungen und Almanachen, wodurch er die Gelegenheit fand, erste Gedichte und Erzählungen aus seiner Feder drucken zu lassen, die allerdings allesamt noch von konventionellem Charakter waren. Am amerikanischen Nationalfeiertag des Jahres 1855 jedoch erschien die erste Auflage der Grashalme; sie umfasste 13 Gedichte, die radikal anders waren als Whitmans bisherige Schöpfungen – und als alles andere, was bis dato an Lyrik existierte. Sie enthielten im Kern bereits alle wesentlichen Merkmale, die auch die gesamten Grashalme auszeichnen würden, die in der Endausgabe an die hundert Seiten und fast vierhundert Gedichte umfassen sollten. Die Grashalme wuchsen geradezu organisch im Laufe des Lebens