Название | Gesammelte Werke |
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Автор произведения | Wilhelm Raabe |
Жанр | Языкознание |
Серия | Gesammelte Werke bei Null Papier |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783962816056 |
Nie war eine polizeiliche Erlaubnis in Gegenwart eines verehrungswürdigen Adels und gebildeten Publikums schmählicher missbraucht worden; und der Gipfel der Abscheulichkeit war, dass der Sünder nicht einmal ahnte, wie schlecht er sei und wie mangelhaft er sich aufführe, sondern der festen Überzeugung sich hingab, er mache jedermann ein unendliches Vergnügen und es befinde sich niemand im Saal, der nicht fühle, hier werde der Wahrheit die angenehmste Form und die höchste Politur gegeben. In diesem Stadium seiner Rede fühlte sich der Redner so eins mit seiner Zuhörerschaft, dass es eine wahre Freude war. Der Nebel, welcher im Anfange auf seinen Augen lag, hatte sich längst verzogen, die glänzenden Toiletten der Damen schwirrten nicht mehr gleich einem wahnsinnig gewordenen Tulpenbeet durcheinander; mehr und mehr orientierte sich Herr Leonhard Hagebucher unter den Gesichtern und Gestalten und fing an, auf einzelne einzureden, wie im gemütlichsten Gespräch.
Wo Andacht auferwacht, da stirbt
Das Ich, der dunkele Despot,
sagt Dschellalledin, und da saß der Herr Polizeidirektor und lächelte immer süßer, süßer, als ob es seine feste Absicht sei, sämtlichen Runkelrübenzuckerfabriken und -raffinerien des Zollvereins Konkurrenz zu machen, und der Redner wendete sich in seinen Ausführungen vorzugsweise gern an ihn; denn in keinem Gesichte der ersten Reihe, in welcher doch auch der Herr von Glimmern saß, las er eine innigere Hingabe an die Sache und ein feineres Verständnis derselben. Da saß die Generalin von Einstein und sprach ihrem Schwiegersohn ziemlich laut ihre Verwunderung aus, dass »so etwas« von den betreffenden Behörden gestattet werden könne. Und da saß die Baronin Nikola und seufzte in tiefster Seele: »Ach, armer Leonhard!« Und der Professor Reihenschlager rieb sich ein Mal über das andere die Stirne und murmelte: »Wo hat er denn sein Konzept? Ist denn das sein Konzept? Steht denn das in seinem Konzept?« Da saß die Frau Emma, zog ihr Tuch um die Schultern zusammen und suchte ganz ängstlich mit den Augen ihren Gemahl, welcher leise einen Marsch mit dem Fuße trommelte und den Blick der Gattin tunlichst vermied. Und Fräulein Serena Reihenschlager machte die allergrößten Augen und amüsierte sich königlich; überhaupt gab es viele, welche ihr Behagen nicht verbargen, dem wunderlichen Menschen hinter den beiden Wachskerzen mit stets steigender Spannung auf seinen Wegen folgten und somit alle spätern Vorsichtsmaßregeln durch ihr Gebaren auf das glänzendste rechtfertigten. Das Neue und Gewagte machte zugleich betroffen und entzückte; die Ironie fühlten nicht alle, die tiefe Bitterkeit sehr wenige, das Komische fast alle außer den Damen, welche dagegen umso mehr von dem Romantischen, dem Schrecklichen und dem Mitleiderregenden angezogen wurden.
Es war nicht zu leugnen, Leonhard Hagebucher zeigte sich seiner Aufgabe vollkommen gewachsen; er entwickelte ein beträchtliches Talent der Schilderung, und das Land vom Mittelmeer bis zum Mondgebirge lebte vor den Augen seiner Zuhörer. Sein Vortrag war zwar nur eine Fata Morgana, welche manches verzog oder auf den Kopf stellte, welche aber doch oder oft grade deshalb magisch genug auf diese deutschen Kleinresidenzler, ihre Weiber und Töchter wirkte. Bei manch einem mischte sich ein Gefühl der Beschämung in das Interesse, welches er an diesem Gefangenen der Madam Kulla Gulla nahm, ein Gefühl, dass es mit dem Wohlbehagen an und in einer engen, wenn auch noch so reinlich und schmuck gehaltenen Umgebung doch nicht völlig getan sei. Es rüttelte etwas an diesen wohldressierten Beamten- und Bankiersseelen und wies hinaus über den Polizeidiener an der Tür des Saales und den Polizeidirektor in der ersten Sitzreihe der Zuhörer. Hier hatte sich jemand durch viel Dreck und Blut, durch sehr unsolide und ungeordnete Verhältnisse unter Türken, Mohren und Heiden aller Schattierungen wacker durchgeschlagen und brachte aus der grimmigsten Sklaverei, der heillosesten Erniedrigung einen solchen Hauch der Freiheit in diese so rationell geordnete Gewöhnlichkeit mit, dass das philisterhafteste Selbstgefühl darob mit bangem Ekel und Überdruss und bei den edleren Naturen mit einem dunkeln Schmerz in Widerstreit geriet. Manch einem ward es wie einem Kranken zumute, der auf seinen heißen Kissen vom blauen Meer und einem Segel in weiter Ferne träumt; es füllte sich mehr als ein Paar jugendlicher Augen mit Tränen, und verschiedene glatzköpfige Assessoren und zahlenerdrückte Rendanten nahmen sich fest vor, bei der nächsten Begegnung mit dem Vorgesetzten diesen zuerst grüßen zu lassen. Was den Vetter Wassertreter anbelangte, so befand sich derselbe in einem Zustande der Entzückung, welcher sich kaum beschreiben lässt. Sein Leonhard übertraf seine schönsten, aber auch boshaftesten, heimtückischsten, frevelhaftesten Erwartungen. Er wurde groß und wurde klein, er atmete schnell und erstickte fast vor einem Vergnügen, welches ihm sicherlich keinen Anspruch auch auf die allerunterste Klasse des Landesordens für verdiente Zivilbeamte gab.
»Recht so, recht so, mein Sohn!« murmelte er. »Herunter mit dem Immergrün unserer Gefühle von dem alten Gemäuer! Nieder mit dem Efeu! Zeige dem Pack, wie das Ding ohne