Parerga und Paralipomena. Arthur Schopenhauer

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Название Parerga und Paralipomena
Автор произведения Arthur Schopenhauer
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9788026825999



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Erwachen das alleinige Kriterium zwischen Wachen und Traum, welches demnach hier, seiner objektiven und hauptsächlichen Hälfte nach, wegfällt. Nämlich beim Erwachen aus einem Traum der in Rede stehenden Art geht bloß eine subjektive Veränderung mit uns vor, welche darin besteht, daß wir plötzlich eine Umwandelung des Organs unsrer Wahrnehmung spüren: dieselbe ist jedoch nur leise fühlbar und kann, weil sie von keiner objektiven Veränderung begleitet ist, leicht unbemerkt bleiben. Dieserhalb wird die Bekanntschaft mit diesen die Wirklichkeit darstellenden Träumen meistens nur dann gemacht werden, wann sich Gestalten eingemischt haben, die derselben nicht angehören und daher beim Erwachen verschwinden, oder auch wann ein solcher Traum die noch höhere Potenzirung erhalten hat, von der ich sogleich reden werde. Die beschriebene Art des Träumens ist Das, was man Schlafwachen genannt hat; nicht etwan, weil es ein Mittelzustand zwischen Schlafen und Wachen ist, sondern weil es als ein Wachwerden im Schlafe selbst bezeichnet werden kann. Ich möchte es daher lieber ein Wahrträumen nennen. Zwar wird man es meistens nur früh Morgens, auch wohl Abends, einige Zeit nach dem Einschlafen, bemerken: dies liegt aber bloß daran, daß nur dann, wann der Schlaf nicht tief war, das Erwachen leicht genug eintrat, um eine Erinnerung an das Geträumte übrig zu lassen. Gewiß tritt dieses Träumen viel öfter während des tiefen Schlafes ein, nach der Regel, daß die Somnambule um so hellsehender wird, je tiefer sie schläft: aber dann bleibt keine Erinnerung daran zurück. Daß hingegen, wann es bei leichterem Schlafe eingetreten ist, eine solche bisweilen Statt findet, ist dadurch zu erläutern, daß selbst aus dem magnetischen Schlaf, wenn er ganz leicht war, ausnahmsweise eine Erinnerung in das wache Bewußtseyn übergehn kann; wovon ein Beispiel zu finden ist in Kieser’s Archiv für thier. Magn. Bd. 3. H. 2. S. 139. Diesem also gemäß bleibt die Erinnerung solcher unmittelbar objektiv wahren Träume nur dann, wann sie in einem leichten Schlaf, z. B. des Morgens, eingetreten sind, wo wir unmittelbar daraus erwachen können.

      Diese Art des Traumes nun ferner, deren Eigenthümliches darin besteht, daß man die nächste gegenwärtige Wirklichkeit träumt, erhält bisweilen eine Steigerung ihres räthselhaften Wesens dadurch, daß der Gesichtskreis des Träumenden sich noch etwas erweitert, nämlich so, daß er über das Schlafgemach hinausreicht, – indem die Fenstervorhänge, oder Läden aufhören Hindernisse des Sehns zu seyn, und man dann ganz deutlich das hinter ihnen Liegende, den Hof, den Garten, oder die Straße, mit den Häusern gegenüber, wahrnimmt. Unsere Verwunderung hierüber wird sich mindern, wenn wir bedenken, daß hier kein physisches Sehn Statt findet, sondern ein bloßes Träumen: jedoch ist es ein Träumen Dessen, was jetzt wirklich da ist, folglich ein Wahrträumen, also ein Wahrnehmen durch das Traumorgan, welches als solches natürlich nicht an die Bedingung des ununterbrochenen Durchgangs der Lichtstrahlen gebunden ist. Die Schädeldecke selbst war, wie gesagt, die erste Scheidewand, durch welche zunächst diese sonderbare Art der Wahrnehmung ungehindert blieb: steigert nun diese sich noch etwas höher; so setzen auch Vorhänge, Thüren und Mauern ihr keine Schranken mehr. Wie nun aber Dies zugehe, ist ein tiefes Geheimniß: wir wissen nichts weiter, als daß hier wahr geträumt wird, mithin eine Wahrnehmung durch das Traumorgan Statt findet. So weit geht diese für unsere Betrachtung elementare Thatsache. Was wir zu ihrer Aufklärung, insofern sie möglich seyn mag, thun können, besteht zunächst im Zusammenstellen und gehörigem stufenweisen Ordnen aller sich an sie knüpfenden Phänomene, in der Absicht, ihren Zusammenhang unter einander zu erkennen, und in der Hoffnung, dadurch vielleicht auch in sie selbst dereinst eine nähere Einsicht zu erlangen.

      Inzwischen wird auch Dem, welchem alle eigene Erfahrung hierin abgeht, die geschilderte Wahrnehmung durch das Traumorgan unumstößlich beglaubigt durch den spontanen, eigentlichen Somnambulismus, oder das Nachtwandeln. Daß die von dieser Sucht Befallenen fest schlafen, und daß sie mit den Augen schlechterdings nicht sehen können, ist völlig gewiß: dennoch nehmen sie in ihrer nächsten Umgebung Alles wahr, vermeiden jedes Hinderniß, gehn weite Wege, klettern an den gefährlichsten Abgründen hin, auf den schmalsten Stegen, vollführen weite Sprünge, ohne ihr Ziel zu verfehlen: auch verrichten Einige unter ihnen ihre täglichen, häuslichen Geschäfte, im Schlaf, genau und richtig, Andere koncipiren und schreiben ohne Fehler. Auf dieselbe Weise nehmen auch die künstlich in magnetischen Schlaf versetzten Somnambulen ihre Umgebung wahr und, wenn sie hellsehend werden, selbst das Entfernteste. Ferner ist auch die Wahrnehmung, welche gewisse Scheintodte von Allem, was um sie vorgeht haben, während sie starr und unfähig ein Glied zu rühren daliegen, ohne Zweifel, eben dieser Art: auch sie träumen ihre gegenwärtige Umgebung, bringen also dieselbe, auf einem andern Wege, als dem der Sinne, sich zum Bewußtseyn.

      Man hat sich sehr bemüht, dem physiologischen Organ, oder dem Sitz dieser Wahrnehmung, auf die Spur zu kommen: doch ist es damit bisher nicht gelungen. Daß, wann der somnambule Zustand vollkommen vorhanden ist, die äußern Sinne ihre Funktionen gänzlich eingestellt haben, ist unwidersprechlich; da selbst der subjektiveste unter ihnen, das körperliche Gefühl, so gänzlich verschwunden ist, daß man die schmerzlichsten chirurgischen Operationen während des magnetischen Schlafs vollzogen hat, ohne daß der Patient irgend eine Empfindung davon verrathen hätte. Das Gehirn scheint dabei im Zustande des allertiefsten Schlafs, also gänzlicher Unthätigkeit zu seyn. Dieses, nebst gewissen Aeußerungen und Aussagen der Somnambulen, hat die Hypothese veranlaßt, der somnambule Zustand bestehe im gänzlichen Depotenziren des Gehirns und Ansammeln der Lebenskraft im sympathischen Nerven, dessen größere Geflechte, namentlich der plexus solaris, jetzt zu einem Sensorio umgeschaffen würden und also, vikarirend, die Funktion des Gehirns übernähmen, welche sie nun ohne Hülfe äußerer Sinneswerkzeuge und dennoch ungleich vollkommener, als dieses, ausübten.

      Diese, ich glaube zuerst von Reil aufgestellte Hypothese ist nicht ohne Scheinbarkeit und steht seitdem in großem Ansehen. Ihre Hauptstütze bleiben die Aussagen fast aller hellsehenden Somnambulen, daß jetzt ihr Bewußtseyn seinen Sitz gänzlich auf der Herzgrube habe, woselbst ihr Denken und Wahrnehmen vor sich gehe, wie sonst im Kopf. Auch lassen die Meisten unter ihnen die Gegenstände, die sie genau besehn wollen, sich auf die Magengegend legen. Dennoch halte ich die Sache für unmöglich. Man betrachte nur das Sonnengeflecht, dieses sogenannte cerebrum abdominale: wie so gar klein ist seine Masse, und wie höchst einfach seine, aus Ringen von Nervensubstanz, nebst einigen leichten Anschwellungen bestehende Struktur! Wenn ein solches Organ die Funktionen des Anschauens und Denkens zu vollziehn fähig wäre; so würde das sonst überall bestätigte Gesetz natura nihil facit frustra umgestoßen seyn.

      Denn wozu wäre dann noch die meistens 3 und bei Einzelnen über 5 Pfund wiegende, so kostbare, wie wohlverwahrte Masse des Gehirns, mit der so überaus künstlichen Struktur seiner Theile, deren Komplikation so intrikat ist, daß es mehrerer ganz verschiedener Zerlegungsweisen und häufiger Wiederholung derselben bedarf, um nur den Zusammenhang der Konstruktion dieses Organs einigermaaßen verstehn und sich ein erträglich deutliches Bild von der wundersamen Gestalt und Verknüpfung seiner vielen Theile machen zu können. Zweitens ist zu erwägen, daß die Schritte und Bewegungen eines Nachtwandlers sich mit der größten Schnelle und Genauigkeit den von ihm nur durch das Traumorgan wahrgenommenen nächsten Umgebungen anpassen; so daß er, auf das Behendeste und wie es kein Wacher könnte, jedem Hinderniß augenblicklich ausweicht, wie auch, mit derselben Geschicklichkeit, seinem einstweiligen Ziele zueilt. Nun aber entspringen die motorischen Nerven aus dem Rückenmark, welches, durch die medulla oblongata, mit dem kleinen Gehirn, dem Regulator der Bewegungen, dieses aber wieder mit dem großen Gehirne, dem Ort der Motive, welches die Vorstellungen sind, zusammenhängt, wodurch es dann möglich wird, daß die Bewegungen mit augenblicklicher Schnelle, sich sogar den flüchtigsten Wahrnehmungen anpassen. Wenn nun aber die Vorstellungen, welche als Motive die Bewegungen zu bestimmen haben, in dass Bauchgangliengeflecht verlegt wären, dem nur auf Umwegen eine schwierige, schwache und mittelbare Kommunikation mit dem Gehirne möglich ist (daher wir im gesunden Zustande vom ganzen, so stark und rastlos thätigen Treiben und Schaffen unsers organischen Lebens gar nichts spüren); wie sollten die daselbst entstehenden Vorstellungen, und zwar mit Blitzesschnelle, die gefahrvollen Schritte des Nachtwandlers lenken?32 – Daß übrigens, beiläufig gesagt, der Nachtwandler ohne Fehl und ohne Furcht die gefährlichsten Wege durchläuft, wie er es wachend nimmermehr könnte, ist daraus erklärlich, daß sein Intellekt nicht ganz und schlechthin, sondern nur einseitig, nämlich nur soweit thätig ist, als es die Lenkung seiner Schritte erfordert; wodurch