Der eiserne Gustav. Hans Fallada

Читать онлайн.
Название Der eiserne Gustav
Автор произведения Hans Fallada
Жанр Языкознание
Серия Hans-Fallada-Reihe
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783961188826



Скачать книгу

die wie eine Aufgabe vor ihm gelegen haben. Er ist wohl schwach und ohne Eigenwillen, aber darum ist er noch kein Drückeberger. Er steigt die Treppen hinauf, er ist nicht zu Haus geblieben, er hat dem Rappen mit der Nasenblesse nicht das entzündete Bein gekühlt, das hat er dem Rabause aufgetragen.

      Als Otto oben im fünften Stock ist, seufzt er nur einmal schwer auf. Aber er zögert nicht, er drückt zweimal auf den Klingelknopf der Gertrud Gudde, Schneiderin. Er muß eine ganze Weile warten, ehe Tutti an die Tür kommt, Tutti, die schon geschlafen hat, mit aufgelöstem Haar, in einem wolligen Morgenrock.

      »Du, Otto?!« ruft sie ganz erstaunt. »Jetzt noch?«

      Es stellt sich heraus, daß sie noch nichts weiß. Sie ist den ganzen Tag nicht aus dem Haus gekommen. Eine Zeitung liest sie nicht – und ihre Anproben sind ohne Absage ausgeblieben.

      »Mobil«, sagt Otto nur. Er sieht sie scheu an. Dann sagt er: »Ich muß gleich wieder weg. Vater weiß nicht, daß ich fort bin.«

      »Was ist das: mobil?« fragt sie ängstlich. »Heißt das Krieg?«

      »Nein, nicht. Es heißt, daß ich morgen in die Kaserne muß.«

      »Mußt du wieder dienen? Soldat sein? Aber warum, wenn es keinen Krieg gibt? – Es ist doch nicht Krieg?!«

      »Nein, Tutti.«

      »Aber warum mußt du dann in die Kaserne?«

      »Vielleicht«, versucht er zu erklären, was er selber nicht genau versteht, »vielleicht bekommen die anderen Angst, wenn sie sehen, wieviel Soldaten wir haben.«

      »Darum mußt du in die Kaserne?«

      »Vielleicht – ich weiß doch nicht. Mobil heißt: Ich muß wieder dienen.«

      »Wie lange denn?«

      »Das weiß ich auch nicht …«

      Stille, lange Stille. Er sitzt mit gesenkten Augen da, er schämt sich, daß er sie angelogen hat, alle haben davon geredet, daß es Krieg wird. Er aber sagt ihr immer bloß, daß mobil nicht Krieg ist. Vielleicht ist es die letzte Stunde, die sie so zusammensitzen …

      Sie hat nachgegrübelt. Nun fragt sie: »Was sagt der Vater?«

      »Ach, der …«

      »Was sagt er, Otto?«

      »Der ist doch immer noch wie beim Militär …«

      »Er sagt, daß Krieg wird …?«

      Otto nickt langsam.

      Lange Stille.

      Dann kommt ihre Hand zu der seinen über den Tisch. Seine Hand will ausweichen, aber sie wird gefangen. Erst widerstrebt sie, dann fügt sie sich in die kleine Hand mit den zerstochenen, harten Fingerkuppen der Näherin.

      »Otto«, bittet sie, »sieh mich doch an …«

      Wieder will die Hand entweichen, und wieder läßt sie sich halten.

      »Otto!« bittet Tutti.

      »Ich schäme mich so …«, flüstert er.

      »Warum denn, Otto? Hast du Angst vor dem Militär?«

      Er schüttelt hastig den Kopf.

      »Vor dem Krieg …?«

      Wieder Kopfschütteln.

      »Aber warum schämst du dich denn, Otto?«

      Er spricht nicht, er macht wieder einen Versuch, seine Hand zu befreien, er sagt: »Ich glaube, ich muß gehen.«

      Sie kommt rasch um den Tisch, sie setzt sich auf seinen Schoß. Sie flüstert: »Komm, sag es mir ganz leise, warum du dich schämst …«

      Er hat nur einen einzigen, idiotischen Gedanken im Kopf. »Ich glaube, ich muß nach Haus«, sagt er und will sich von ihr frei machen. »Vater schilt sonst …«

      Sie hat ihre Arme um seinen Hals gelegt. Nur schwach glimmt der Lebensfunke in ihr, aber rein. »Mir kannst du doch sagen, warum du dich schämst, Ottchen«, flüstert sie. »Ich schäme mich ja auch nicht vor dir …«

      »Tutti«, sagt er. »Ach, Tutti … Ich taug ja nichts. Vater …«

      »Ja, sag … sag, Otto!«

      »Ich habe die Papiere nicht …«

      »Welche Papiere?«

      »Die Papiere! Ich habe solche Angst – Vater erlaubt es nie!«

      Lange, lange Stille. Sie liegt so ruhig an seiner Brust, klein, schwach, zerbrechlich … Als schliefe sie. Aber sie schläft nicht, sie hat die Augen weit geöffnet, diese Augen mit dem sanften und doch glühenden Taubenblick … Sie versucht, seinen Augen zu begegnen, seinen scheuen, blassen Augen …

      Plötzlich steht er auf. Er hält sie im Arm, er trägt sie wie ein Kind. Mit ihr auf dem Arm geht er im Zimmer herum, sie vergessend, sich vergessend, alles …

      Er murmelt mit sich, er spricht leise. »Ja, du«, sagt er etwa, »du denkst, du bist was. Aber daß der Rappe lahmt, das habe ich gesehen und nicht du … Und daß der Piepgras dich beschummelt, das weiß nur ich, nicht du … Aber das ist es nicht. Du willst überall sein, nicht nur in Haus und Stall, auch in Erich willst du sein und in Heinz und in Mutter. Was jeder Kutscher denkt, das willst du wissen, und es darf nur das sein, was du denkst. Als Junge habe ich mir mal eine kleine Wassermühle gebaut und sie unter der Leitung laufen lassen, und du hast mir die Wassermühle zertreten und gesagt, das ist Dreck, das braucht zuviel teures Wasser – das habe ich nie vergessen …

      Du und deine Kinder … Aber deine Kinder wollen dich alle nicht, und ich will dich am wenigsten! Mich, denkst du, hast du am festesten, aber mich hast du gar nicht, nichts von mir. Bloß, daß ich tue, was du willst, damit ich dein Geschrei nicht mehr hören muß …«

      »Otto! Otto! Was redest du?« ruft sie in seinem Arm.

      »Ja, du bist auch da. Ich weiß, du bist da, meine Gute, meine Einzige, mein ganzes Glück. Die Einzige, die mich nie getreten hat! Aber ich habe dich nie allein gehabt, auch hier ist er immer gewesen, noch drinnen, wenn wir beieinanderlagen, noch drinnen …«

      »Otto! Otto!!«

      »Aber wenn es jetzt wirklich Krieg gibt, und ich mit muß, so will ich beten, daß mir ein Arm oder ein Bein abgeschossen wird, daß ich nicht mehr in seinem verfluchten Stall arbeiten muß, unter seinen Augen, daß ich irgendwoanders hingehen kann, wo ich ihn nicht sehe, ihn vergesse …«

      »Otto, er ist doch dein Vater!«

      »Mein Vater …? Er ist bloß der eiserne Gustav, wie die Leute sagen, und er ist noch stolz darauf! Aber man soll nicht stolz darauf sein, daß man eisern ist, denn dann ist man kein Mensch und kein Vater! Ich will nicht mehr nur sein Sohn sein, ich will ein eigener Mensch sein! Ganz wie die anderen alle!«

      Einen Augenblick stand er aufgerichtet, schon verfiel er. »Aber es wird nichts, es wird nie etwas … Ich habe gedacht, wenn Krieg wird, werde ich den Mut haben, zu Vater zu gehen. Aber auch jetzt wird es nicht.«

      »Otto, mach dir doch um die Trauung keine Gedanken! Ich habe es doch nicht meinetwegen gesagt! Wir sind immer glücklich gewesen, das weißt du doch!«

      »Glücklich, glücklich …«

      »Ach, Otto, es hat doch Zeit, wir lassen uns trauen, wenn du wiederkommst …«

      »Wenn ich wiederkomme …!«

      7 Pferdemusterung

      Es ist Morgen, sieben Uhr morgens. Morgen eines Wochentages, Arbeitstages.

      Aber auf dem Hackendahlschen Fuhrhof stehen alle Droschken unbespannt nebeneinander, Gepäckdroschken und offene Droschken, Droschken erster und zweiter Klasse. Sie stehen nebeneinander, als ruhten sie aus, als gebe es keine Arbeit mehr für sie …

      Die Kutscher laufen umher in Sonntagsanzügen, sie ziehen die Pferde aus dem Stall. Vater Hackendahl steht an der Hofpumpe, er mustert jeden Gaul, sieht nach, ob er gut genug geputzt ist, läßt die Hufe schmieren, einen Trensenzügel verschnallen … Die Pferde sind aufgeregt wie die Menschen, es macht sie