Finanzkrise. Reiner Osbild

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Auf Lenin geht das Bonmot zurück, der beste Weg, das kapitalistische System zu zerstören, sei die Zersetzung der Währung. Bei einem fortgesetzten Inflationsprozess könne der Staat, heimlich und unbeobachtet, einen beträchtlichen Teil des Vermögens seiner Bürger vereinnahmen.2 Er könnte dies aber auch ganz offen tun: So wartete der Internationale Währungsfonds mit dem Vorschlag auf, eine Sondersteuer auf 10 Prozent aller weltweiten Vermögen zu erheben, um die Staatsschulden wenigstens auf das Vorkrisenniveau zu senken.3

      Ist das pragmatisch klingende »Weiter so« in der Euro-»Rettungs«-Politik am Ende doch »alternativlos«? »Ein Staat macht einen folgenschweren Fehler, wenn er Fakten leugnet, nur um das System zu schützen«, betonte der chinesische Künstler und Bürgerrechtler Ai Weiwei.4 Denkverbote sollten in unserer freiheitlichen Gesellschaft tabu sein; alternativlos ist nur das Ringen um die beste Lösung.

      Reiner Osbild

I. Anatomie einer Krise

      Finanz-, Schulden-, Eurokrise; Griechenland-, Zypern-, Bankenkrise; Wirtschaftskrise, Rezession, Arbeitslosigkeit: Allein schon diese wenigen Worte weisen auf die komplexe Gemengelage hin. Vielfältig auch die Akteure, die zur Bewältigung der Krise beitragen sollen beziehungsweise diese begleiten: Regierungen und Parlamente, Europäischer Rat, Eurogruppe, EZB, IWF, Troika, Verfassungsgericht. Verwirrend schließlich die Komplexität der Maßnahmen: Rettungsschirme EFSM, EFSF, ESM, Dicke Bertha, Bazooka, LTRO, OMT, Bankenunion.

      Die Finanzkrise im Euroraum ist die vorerst letzte einer Vielzahl von Vorgängerkrisen weltweit (vgl. S. 24). Im Verlauf dieser Krisen explodierten Geldmenge und Staatsverschuldung nicht nur in Europa. Die weltweite Staatsverschuldung erreichte bis Mitte 2013 33 Billionen Euro und war damit rund 80 Prozent höher als Mitte 2007.5 Die umlaufende Geldmenge vervielfachte sich in den wichtigsten Industrieländern. Allein im Euroraum nahm die Geldmenge von 2004 bis 2013 um 96 Prozent zu, 6 während das reale (also inflationsbereinigte) Bruttoinlandsprodukt nur um 13,8 Prozent stieg.7 Auch an Deutschland gingen die Krisen nicht spurlos vorüber. Das Bundesfinanzministerium beziffert den Anteil der Eurokrise an der deutschen Staatsverschuldung auf 64,7 Mrd. Euro oder 2,4 Prozent des BIP.8 Dies ist aber nicht einmal die halbe Wahrheit.

      Allein die bisherigen Rettungssummen der Staatengemeinschaft für die Euro-Krisenländer belaufen sich auf unvorstellbare 1 029 Mrd. Euro. Hinzu kommen bereits zugesagte und beschlossene zukünftige Leistungen in Höhe von 675 Mrd. Euro, sodass die Gesamtsumme 1 704 Mrd. Euro beträgt. Rund ein Drittel der Maßnahmen wird von Deutschland getragen; das ifo Institut für Wirtschaftsforschung hat ein Haftungsrisiko von 574 Mrd. Euro errechnet.

Maximaler Verlust Deutschlands bei Zahlungsunfähigkeit der GIIPS-Staaten einschl. Zyperns, in Mrd. EUR
Verluste aus Finanzhilfen an … (Mrd. EUR)
• Griechenland 80
• Portugal 18
• Irland 13
• Beteiligung an IWF-Krediten 11
Zwischensumme 122
Verlustrisiken der Bundesbank (einschl. Target 2) 262
Verlustrisiken aus ESM 190
Maximale Verluste für Deutschland 574
Haftungsrisiko der Staatengemeinschaft insg. (nachrichtlich) 1 704
Anteil Deutschlands am weltweiten Haftungsrisiko 33,7 %

      Abbildung 1: Verlustrisiko für Deutschland9

      Schauen wir uns die zentralen Begriffe genauer an.10

      Erklärung der wichtigsten Begriffe

      EFSF = Europäische Finanzstabilisierungsfazilität

      Ein von den nationalen Regierungen gespeister Fonds luxemburgischen Rechts, der maximal Kredite in Höhe von 440 Mrd. Euro vergeben kann. Der Löwenanteil der gewährten und zugesagten Mittel entfällt auf Griechenland mit 144,6 Mrd. Euro.

      EFSM = Europäischer Finanzstabilisierungsmechanismus

      Der EFSM stellt bis zu 60 Mrd. Euro aus dem EU-Haushalt für Krisen wie Energieengpässe und Naturkatastrophen bereit. Der deutsche Anteil daran beträgt 20 Prozent, das entspricht 12 Mrd. Euro.

      ESM = Europäischer Stabilitätsmechanismus

      Der ESM löst als permanente Einrichtung sowohl EFSF als auch EFSM ab. Er verfügt über 700 Mrd. Euro Stammkapital. Diese Summe teilt sich auf in 80 Mrd. Euro eingezahltes und 620 Mrd. Euro abrufbares Kapital. Der deutsche Finanzierungsanteil am ESM beträgt 27,15 Prozent. Dies entspricht rund 22 Mrd. Euro eingezahltem und rund 168 Mrd. Euro abrufbarem Kapital.

      IWF = Internationaler Währungsfonds

      Er wurde in der Nachkriegsära eingerichtet, um Leistungsbilanzkrisen im Kreise seiner Mitgliedsländer, mittlerweile 188 an der Zahl, zu beheben. Der IWF beteiligte sich bislang mit rund 70 Mrd. Euro an den Rettungstaten. Der deutsche Anteil beträgt 6 %.11

      EZB = Europäische Zentralbank

      Dies ist die gemeinsame Notenbank der Euro-Länder. Deutschland ist an ihr mit rund 18 Prozent beteiligt; mit diesem Anteil (1 948 Mio. €) muss Deutschland auch haften. Im EZB-Rat, der die operativen Entscheidungen trifft, gilt: eine Stimme pro Land.12 Pro eine Million Einwohner hat Deutschland damit das geringste Stimmengewicht, die »Zwergstaaten« Malta, Luxemburg, Zypern und Estland das höchste.

      Die geldpolitischen Programme der EZB werden oft mit martialischen Namen aus der Militärgeschichte wie »Bazooka« und »Dicke Bertha« versehen. Im Wesentlichen stecken zwei Strategien dahinter:

      • Direkte Interventionen: Durch den Kauf von Staatsanleihen werden die Kurse der Anleihen aus Krisenstaaten stabilisiert und ihre (Re-)Finanzierung verbilligt. Dieses Programm läuft unter der Abkürzung OMT für Outright Monetary Transactions.13

      Das Bundesverfassungsgericht hat sich jüngst kritisch über die Rechtmäßigkeit der OMT geäußert, da sie anscheinend das EZB-Statut verletzten; jedoch wurde der Fall an den Europäischen Gerichtshof weitergereicht.

      • Indirekte Interventionen (LTRO: Long Term Refinancing Operations): Das beinhaltet die Gewährung nahezu unbegrenzter Notenbankkredite an die Geschäftsbanken im Euroraum zu sehr niedrigen Zinsen. Dies sollte die Geschäftsbanken zum Kauf von Staatsanleihen veranlassen.

      Target

      Target ist ein System, mit dem die nationalen Zentralbanken den grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr abwickeln. Die angeschlossenen Geschäftsbanken – beispielsweise die spanische Banco Popular – können es nutzen, um für ihre Kunden