Название | Die verlorene Handschrift |
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Автор произведения | Gustav Freytag |
Жанр | Зарубежная классика |
Серия | |
Издательство | Зарубежная классика |
Год выпуска | 0 |
isbn |
»Also sie forschen nach, und in unserer Gegend. Nach Indianern kann es nicht sein, ich wüßte nicht, daß hierherum welche aufgetreten wären. Es müßte denn ein Irrthum sein, und sie müßten Zigeuner meinen, solche kommen vor. Denken Sie, liebe Ilse, erst vor vierzehn Tagen ein Mann und zwei Weiber, jede mit einem Kinde. Die Weiber sagten wahr; was sie dem Hausmädchen prophezeit haben, ist wirklich merkwürdig, und am Abend fehlten zwei Hühner. Sollte es wegen der Zigeuner sein? aber das kann ich nicht glauben, da dies bloß Kesselflicker sind und nichtsnutzige Leute. Nein, deretwegen forschen sie nicht.«
»Wer sind denn aber die Zigeuner?« frug Clara.
»Liebes Kind, sie sind Vagabonden, welche früher ein Volk waren und sich verbreiteten. Sie hatten einen König und Briefe und Jagdhunde, obgleich sie große Spitzbuben waren. Ursprünglich aber sind sie Egypter, eigentlich aber auch Indianer.«
»Wie können sie Indianer sein,« rief Hans ohne alle Ehrerbietung, »die Indianer wohnen ja in Amerika. Wir haben auch ein Conversationslexikon, und wir wollen gleich nachsehen.«
»Ja, ja,« riefen die Kinder und liefen mit dem Bruder zum Bücherschrank. Triumphirend brachte jedes einen Band getragen und stellte die neuen Einbände zwischen den Kaffetassen vor Frau Rollmaus auf. Diese blickte keineswegs erfreut auf die geheime Quelle ihrer Kraft, welche hier vor Aller Augen bloßgelegt wurde.
»Und unseres ist neuer als das Ihre,« rief der kleine Franz, die Hand schwenkend. Vergebens bemühte sich Ilse durch abweisende Winke diesen Ausbruch des Familienstolzes zu unterdrücken. Hans hielt, das Wort Zigeuner suchend, den letzten Band fest in seinen Händen und eine Niederlage der Frau Oberamtmann war nach menschlichem Dafürhalten nicht mehr abzuwehren. Aber plötzlich sprang Hans auf, hielt den Band in die Höhe und rief: »Hier steht der Herr Professor!« – »Unser Herr Professor steht im Conversationslexikon!« schrieen die Kinder. Familienfehde und Zigeuner waren vergessen, Ilse nahm dem Bruder das Buch aus der Hand, die Oberamtmann stand auf, um die merkwürdige Stelle über Ilse’s Schultern selbst zu lesen, alle Kinderköpfe drängten sich um das Buch, daß sie wieder aussahen wie ein Bündel Knospen am Fruchtbaum, und alle spähten neugierig nach den Zeilen, die für ihren Gast und sie selbst so ruhmvoll waren. In dem Artikel standen die gewöhnlichen kurzen Notizen, welche über lebende Gelehrte gegeben werden, Ort und Tag seiner Geburt und die – meist lateinischen – Titel seiner Schriften. Alle diese Titel wurden trotz der unleserlichen Sprache mit Jahreszahl und Format laut abgelesen. Ilse sah lange in das Buch, dann reichte sie es der erstaunten Frau Oberamtmann, dann zogen die Kinder den Band einander aus den Händen. Das Ereigniß machte auf Groß und Klein einen Eindruck, der in literarischen Kreisen niemals erreicht werden konnte. Am glücklichsten war die Frau Oberamtmann, sie hatte neben einem Manne gesessen, der nicht nur selbst nachschlug, sondern auch nachgeschlagen werden konnte. Er war jetzt für sie berühmt im Allgemeinen, ohne Einschränkung, und sie empfand zum ersten Male in ihrem Leben, daß sich mit solchem gedruckten Mann recht behaglich verkehren ließe. »Welch ein ausgezeichneter Gelehrter!« rief sie. »Wie waren doch die Titel seiner Schöpfungen, liebe Ilse?« Ilse wußte es nicht, Auge und Gedanken waren ihr an den kurzen Bemerkungen über seine Lebensverhältnisse festgeheftet.
Diese Entdeckung hatte die gute Folge, daß Frau Oberamtmann für heut gänzlich die Waffen streckte und sich beschied, keine Kenntnisse zu verrathen, denn sie sah ein, daß heut eine Concurrenz mit dieser Familie unmöglich war, und sie ließ sich zu einer anspruchslosen Unterhaltung über Hausangelegenheiten herab. Die Kinder aber stellten sich in achtungsvoller Entfernung vor dem Professor auf und betrachteten ihn neugierig noch einmal von oben bis unten, und Hans theilte dem Doctor leise die Neuigkeit mit und war sehr betroffen, daß dieser nichts daraus machte.
Nach dem Kaffe schlug der Landwirth seinen Gästen vor, den nahen Berg zu besteigen und den Schaden zu betrachten, welchen der Blitz angerichtet. Ilse belud eine Magd mit dem Abendbrot und einigen Flaschen Wein, und der Zug setzte sich in Bewegung. Vom Felsen ging es in das Thal hinab über den Wiesenstreif und den Bach, dann die Berglehne hinauf durch Unterholz in den Schatten hochstämmiger Fichten. Der Regen hatte die steilen Wege ausgespült und unregelmäßige Wasserrinnen furchten den Kies. Auch die Frauen schritten tapfer über die feuchten Stellen. Wer aber nicht aus Tracht und Haltung des Professors erkannte, daß er in sicherem Gefühl seiner Männlichkeit auftrat, der hätte wohl argwöhnen dürfen, daß zwar die Frau Oberamtmann ein verkleideter Herr sei, der Herr Professor aber eine weichbeschuhte Dame. Denn die Rollmaus umschwebte ihn ehrerbietig und war nicht von seiner Seite zu bringen. Sie machte ihn auf Steine aufmerksam, bezeichnete mit der Spitze ihres Schirmes die trockensten Stellen, blieb zuweilen stehen und sprach die Befürchtung aus, daß ihn der Weg zu sehr angreifen werde. Der Professor ließ sich die Huldigung der kleinen Dame erstaunt gefallen und sah nur einige Male fragend auf Ilse, über deren Gesicht dann ein schalkhaftes Lächeln flog. Auf der Höhe wurde der Pfad bequemer, einzelne Laubbäume unterbrachen das dunkle Grün der Fichten. Der Gipfel selbst war gelichtet, zwischen den Steinen breitete das Haidekraut seine dichten Büschel, an denen in üppiger Fülle die röthlichen Blüthen hingen. Ringsumher übersah man die Landschaft mit ihren Höhen und Thälern, in der Tiefe den Bach und seinen grünen Saum, das Gut mit seinen Feldern, das Thal von Rossau. Auf die sinkende Sonne zu aber hob sich in langgeschwungenen Bogen eine Erdwelle hinter der andern, jede nach der Entfernung anders mit dämmerigem Blau gefärbt, bis in das helle Grau der Gebirgskette am Horizont. Das war unter heiterem Himmel, in reiner Bergluft ein erfrischender Anblick, und die Gesellschaft lagerte vergnügt im Haidekraut, wo es die weichsten Polster bot.
Nach kurzer Rast brach die Gesellschaft, von Hans geführt, zu der Stelle auf, an welcher der Wetterstrahl den Baum gefällt hatte. In einem Schlag hoher Nadelbäume war der Ort der Verwüstung. Eine starke gesunde Fichte war durch den Strahl erschlagen und zerworfen, ein wüstes Durcheinander von Zweigen und riesigen Splittern des weißen Holzes lag im Umkreis des gebrochenen Stammes, der ohne Krone, geschwärzt, bis auf den Grund gespalten noch etwa haushoch über die Trümmer hervorragte. Aus dem Gewirr der Aeste am Boden erkannte man, daß auch der Grund aufgewühlt war bis unter die Wurzeln der nächsten Bäume. Ernsthaft sahen die Erwachsenen auf die Stätte, wo ein Augenblick das kräftige Leben in häßliche Unform verwandelt hatte. Die Kinder aber drangen jauchzend in das Dickicht, griffen nach den schuppigen Zapfen des vergangenen Jahres und schnitten Aeste von dem Gipfel, jeder bemüht, das größte Gehänge der gelben Schuppenfrüchte davon zu tragen.
»Es ist nur einer von Hunderten,« sagte der Landwirth finster, »aber es thut doch weh, solche Verwüstung gegen die gewohnte Ordnung zu betrachten und an das Verderben zu denken, das so nahe über unsern Häuptern dahinfuhr.«
»Macht diese Erinnerung nur Mißbehagen?« frug der Professor, »ist sie nicht auch erhebend?«
»Die Hörner des Widders hängen an den Zweigen,« sprach Ilse leise zum Vater, »er wurde das Opfer, damit wir verschont blieben.«
»Ich meine auch der Mensch, der von solchem Strahl getroffen wird, er sollte, wenn dieser Augenblick noch zu einem letzten Gedanken Zeit läßt, sich selbst sagen: es ist ganz in der Ordnung.«
Der Landwirth sah den Professor fragend an: »Sprechen Sie darüber zu uns einige Worte,« begann er feierlich. »Man hat an diesem Orte einen Wunsch nach einem gemeinsamen Gedanken, der von dem Mißbehagen frei macht.«
»Ich bin nicht geübt in der Sprache erbaulicher Betrachtung,« sagte der Gelehrte, »und ich vermag nur weltliche Worte zu reden. Wir vergessen leicht im Behagen des Tages, was wir immer im fröhlichen Herzen tragen sollten, daß wir nur unter Bedingungen leben, wie alles Andere auf Erden und am Himmel. Zahllose Kräfte, fremdartige Gewalten sind um uns in unaufhörlicher Arbeit, jede nach festen ihr eigenen Gesetzen wirkend, auch unser Leben erhaltend, tragend, beschädigend. Die Kälte, welche