Название | Der Zauberberg. Volume 2 |
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Автор произведения | Томас Манн |
Жанр | Зарубежная классика |
Серия | |
Издательство | Зарубежная классика |
Год выпуска | 1924 |
isbn | 978-5-521-06257-7, 978-5-521-05933-1 |
Der Vorgang hatte sich abgespielt, wie Hans Castorp ihn während seines Aufenthaltes hier oben schon manchmal sich hatte abspielen sehen: der Schlitten oder Wagen hielt an der Rampe, Kutscher und Hausknecht schnürten die Koffer auf, Sa-natoriumsgäste, Freunde dessen, der, genesen oder nicht, um zu leben oder zu sterben, die Rückreise ins Flachland antrat, oder auch nur solche, die den Dienst schwänzten, um das Ereignis auf sich wirken zu lassen, versammelten sich vorm Portal; ein Herr im Gehrock von der Verwaltung, vielleicht sogar die Ärzte stellten sich ein, und dann kam der Abreisende heraus, – strah-lenden Angesichtes meist und huldvoll die neugierig Umste-henden und Zurückbleibenden grüßend, mächtig belebt für den Augenblick durch das Abenteuer … Diesmal nun war es Frau Chauchat gewesen, die herausgekommen war, lächelnd, den Arm voller Blumen, in langem, rauhem, mit Pelz besetztem Reisemantel und großem Hut, begleitet von Herrn Buligin, ih-rem konkaven Landsmann, der ein Stück Weges mit ihr reiste. Auch sie schien freudig erregt, wie jeder Abreisende es war, – nur durch den Lebenswechsel, ganz unabhängig davon, ob man mit ärztlicher Einwilligung reiste oder nur aus verzweifeltem Überdruß, auf eigene Gefahr und mit schlechtem Gewissen den Aufenthalt unterbrach. Ihre Wangen waren gerötet, sie plauderte beständig, wahrscheinlich russisch, während man ihre Knie mit einer Pelzdecke umwickelte … Nicht nur Frau Chauchats Landsleute und Tischgenossen, sondern auch zahlreiche andere Gäste waren zur Stelle gewesen, Doktor Krokowski hatte kernig lächelnd seine gelben Zähne im Barte gezeigt, noch mehr Blumen hatte es gegeben, die Großtante hatte Konfekt, "Konfäktchen" wie sie zu sagen pflegte, das heißt russische Marmelade, gespendet, die Lehrerin hatte dort gestanden, der Mannheimer, – dieser in einiger Entfernung, trübe spähend, und seine leid-vollen Augen waren am Hause emporgeglitten, wo sie Hans Castorp am Korridorfenster gewahrt und trübe auf ihm verweilt hatten … Hofrat Behrens hatte sich nicht gezeigt; offenbar hatte er sich von der Reisenden schon bei anderer, privater Gele-genheit verabschiedet … Dann hatten unter dem Winken und Rufen der Umstehenden die Pferde angezogen, und auch Frau Chauchats schräge Augen hatten nun, während die Vorwärtsbe-wegung des Schlittens ein Zurücksinken ihres Oberkörpers ge-gen das Polster bewirkt hatte, noch einmal lächelnd die Front des Berghof-Hauses überflogen und während des Bruchteils einer Sekunde auf Hans Castorps Antlitz verweilt … Bleich war der Zurückbleibende auf sein Zimmer geeilt, in seine Loggia, um den Schlitten von hier aus noch einmal zu sehen, der mit Geklingel die Anfahrtstraße hinab gegen "Dorf" hingeglitten war, hatte sich dann in seinen Stuhl geworfen und aus der Brusttasche die Erinnerungsgabe gezogen, das Pfand, das diesmal nicht in bräunlichroten Holzschnitzeln, sondern in einem dünn gerahmten Plättchen, einer Glasplatte bestand, die man gegen das Licht halten mußte, um etwas an ihr zu finden, – Clawdias Innenporträt, das ohne Antlitz war, aber das zarte Ge-bein ihres Oberkörpers, von den weichen Formen des Fleisches licht und geisterhaft umgeben, nebst den Organen der Brust-höhle erkennen ließ …
Wie oft hatte er es betrachtet und an die Lippen gedrückt in der Zeit, die seitdem verflossen war, indem sie Veränderung ge-zeitigt hatte! Gewöhnung zum Beispiel an ein Leben hier oben in räumlich weiter Abwesenheit Clawdia Chauchats hatte sie gezeitigt, und zwar geschwinder, als man hätte denken sollen: die hiesige Zeit war ja besonders danach geartet und außerdem zu dem Zwecke organisiert, Gewöhnung zu zeitigen, wenn auch nur Gewöhnung daran, daß man sich nicht gewöhnte. Der klir-rende Knall zu Beginn der fünf übergewaltigen Mahlzeiten war nicht mehr zu gewärtigen und trat nicht mehr ein; anderswo, in ungeheurer Entfernung, ließ Frau Chauchat nun Türen zufallen, – eine Wesensäußerung, die mit ihrem Dasein, ihrer Krankheit auf ähnliche Art vermengt und verbunden war wie die Zeit mit den Körpern im Raum: vielleicht war das ihre Krankheit, und nichts weiter … Aber war sie unsichtbar-abwesend, so war sie doch zugleich auch unsichtbar-anwesend für Hans Castorps Sinn, – der Genius des Ortes, den er in schlimmer, in ausschreitungsvoll süßer Stunde, in einer Stunde, auf die kein friedliches kleines Lied des Flachlandes paßte, erkannt und besessen hatte, und dessen inneres Schattenbild er auf seinem seit neun Mona-ten so heftig in Anspruch genommenen Herzen trug.
In jener Stunde hatte sein zuckender Mund in fremder Spra-che und in der angeborenen so manches Ausschreitungsvolle halb unbewußt und halb erstickt gestammelt: Vorschläge, Aner-bietungen, tolle Entwürfe und Willensvorsätze, denen alle Billi-gung mit Fug und Recht versagt geblieben war, – so, daß er den Genius über den Kaukasus begleiten, ihm nachreisen, ihn an dem Orte, den die freizügige Laune des Genius sich zum näch-sten Domizil erwählen werde, erwarten wolle, um sich niemals mehr von ihm zu trennen, und andere UnVerantwortlichkeiten mehr. Was der schlichte junge Mann mitgenommen hatte aus dieser Stunde tiefen Abenteuers, war eben nur das Schat-tenpfand gewesen und die dem Range des Wahrscheinlichen sich nähernde Möglichkeit, daß Frau Chauchat zu einem vierten Aufenthalt hierher zurückkehren werde, früher oder später, wie die Krankheit, die ihr Freiheit gab, es fügen würde. Aber ob früher oder später, – Hans Castorp, so hatte es auch beim Abschied wieder geheißen, werde dann unbedingt "längst weit fort" sein; und der geringschätzige Sinn dieser Prophezeiung wäre noch schwerer erträglich gewesen, wenn man nicht hätte bedenken können, daß gewisse Dinge nicht prophezeit werden, damit sie eintreten, sondern damit sie nicht eintreten, gleichsam im Sinn der Beschwörung. Propheten dieser Art verhöhnen die Zukunft, indem sie ihr sagen, wie sie sich gestalten werde, damit sie sich schäme, sich wirklich so zu gestalten. Und wenn der Genius ihn, Hans Castorp, im Laufe des mitgeteilten Gesprächs und au-ßerhalb seiner einen "joli bourgeois au petit endroit humide" genannt hatte, was etwas wie die Übersetzung der Redensart Settembrinis vom "Sorgenkind des Lebens" gewesen war, so fragte es sich eben, welcher Bestandteil dieser Wesensmischung sich als stärker erweisen würde: der bourgeois oder das andere .. . Auch hatte der Genius nicht in Betracht gezogen, daß er selbst ja verschiedentlich abgereist und wiedergekommen war und daß auch Hans Castorp im rechten Augenblick würde wiederkommen können, – obgleich er ja freilich überhaupt nur deshalb noch immer hier oben saß, damit er nicht wiederzukommen brauchte: das war ausdrücklich, wie bei so vielen, der Sinn seines Verweilens.
Eine spöttische Prophezeiung vom Faschingsabend war einge-troffen: Hans Castorp hatte eine schlechte Fieberlinie gehabt, in steiler Zacke, die er mit einem Gefühl von Festlichkeit einge-zeichnet, war seine Kurve damals emporgestiegen und, nach ei-nigem Absinken, als Hochplateau fortgelaufen, das sich, nur leicht gewellt, dauernd über der Ebene des bisher Gewohnten hielt. Es war eine Übertemperatur, deren Höhe und Hartnäckig-keit nach des Hofrats Aussage zu dem lokalen Befund in kei-nem rechten Verhältnis stand. "Sind eben doch vergifteter, als man Ihnen zutrauen sollte, Freundchen", sagte er. "Na, greifen wir mal zu den Injektionen! Das wird Ihnen anschlagen. In drei, vier Monaten sind Sie wie der Fisch im Wasser, wenn es nach dem Unterfertigten geht." So kam es, daß Hans Castorp nun zweimal die Woche, am Mittwoch und Sonnabend gleich nach der Morgenmotion, sich im "Labor" drunten einzufinden hatte, um seine Einspritzung entgegenzunehmen.
Beide Ärzte verabfolgten dies Heilmittel, bald dieser, bald jener, aber der Hofrat tat es als Virtuos, mit einem Schwung, indem er beim Einstich zugleich abdrückte. Übrigens kümmerte er sich nicht um die Stelle, wohin er stach, so daß der Schmerz zuweilen des Teufels war und der Punkt noch lange brennend verhärtet blieb. Ferner wirkte die Injektion stark angreifend auf den Gesamtorganismus, erschütterte das Nervensystem wie eine Gewaltleistung sportlicher Art, und das zeugte für die ihr inne-wohnende Kraft, die sich auch darin bekundete, daß sie unmit-telbar, für den Augenblick, die Temperatur sogar erhöhte: so hatte der Hofrat es vorausgesagt, und so geschah es denn auch, gesetzmäßig und ohne daß es an der vorausgesagten Erschei-nung etwas zu beanstanden gab. Die Prozedur war rasch abgetan, war man nur erst einmal an der Reihe; im Handumdrehen hatte man sein Gegengift unter der Haut, sei es des Schenkels oder Armes. Ein paarmal aber, wenn der Hofrat sich eben auf-gelegt und vom