Der Zauberberg. Volume 2. Томас Манн

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Название Der Zauberberg. Volume 2
Автор произведения Томас Манн
Жанр Зарубежная классика
Серия
Издательство Зарубежная классика
Год выпуска 1924
isbn 978-5-521-06257-7, 978-5-521-05933-1



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iginal, 2018

      Sechstes Kapitel

      Veränderungen

      Was ist die Zeit? Ein Geheimnis, – wesenlos und allmächtig. Ei-ne Bedingung der Erscheinungswelt, eine Bewegung, verkop-pelt und vermengt dem Dasein der Körper im Raum und ihrer Bewegung. Wäre aber keine Zeit, wenn keine Bewegung wäre? Keine Bewegung, wenn keine Zeit? Frage nur! Ist die Zeit eine Funktion des Raumes? Oder umgekehrt? Oder sind beide iden-tisch? Nur zugefragt! Die Zeit ist tätig, sie hat verbale Beschaffen-heit, sie "zeitigt". Was zeitigt sie denn? Veränderung! Jetzt ist nicht damals, hier nicht dort, denn zwischen beiden liegt Bewegung. Da aber die Bewegung, an der man die Zeit mißt, kreis-läufig ist, in sich selber beschlossen, so ist das eine Bewegung und Veränderung, die man fast ebensogut als Ruhe und Still-stand bezeichnen könnte; denn das Damals wiederholt sich be-ständig im Jetzt, das Dort im Hier. Da ferner eine endliche Zeit und ein begrenzter Raum auch mit der verzweifeltsten Anstren-gung nicht vorgestellt werden können, so hat man sich entschlossen, Zeit und Raum als ewig und unendlich zu "denken", – in der Meinung offenbar, dies gelinge, wenn nicht recht gut, so doch etwas besser. Bedeutet aber nicht die Statuierung des Ewigen und Unendlichen die logisch-rechnerische Vernichtung alles Begrenzten und Endlichen, seine verhältnismäßige Redu-zierung auf null? Ist im Ewigen ein Nacheinander möglich, im Unendlichen ein Nebeneinander? Wie vertragen sich mit den Notannahmen des Ewigen und Unendlichen Begriffe wie Ent-fernung, Bewegung, Veränderung, auch nur das Vorhandensein begrenzter Körper im All? Das frage du nur immerhin!

      Hans Castorp fragte so und ähnlich in seinem Hirn, das gleich bei seiner Ankunft hier oben zu solchen Indiskretionen und Quengeleien sich aufgelegt gezeigt hatte und durch eine schlimme, aber gewaltige Lust, die er seitdem gebüßt, vielleicht besonders dafür geschärft und zum Querulieren dreist gemacht worden war. Er fragte sich selbst danach und den guten Joachim und das seit undenklichen Zeiten dick verschneite Tal, obgleich er ja von keiner dieser Stellen irgend etwas einer Antwort Ähn-liches zu gewärtigen hatte, – schwer zu sagen, von welcher am wenigsten. Sich selbst legte er solche Fragen eben nur vor, weil er keine Antwort darauf wußte. Joachim seinerseits war zur Teilnahme daran fast gar nicht zu gewinnen, da er, wie Hans Castorp es eines Abends auf französisch gesagt hatte, an nichts dachte als daran, im Flachlande Soldat zu sein und mit der bald sich nähernden, bald foppend wieder ins Weite schwindenden Hoffnung darauf in einem nachgerade erbitterten Kampfe lag, den durch einen Gewaltstreich zu beenden er sich neuerdings geneigt zeigte. Ja, der gute, geduldige, rechtliche und so ganz auf Dienstlichkeit und Disziplin gestellte Joachim unterlag em-pörerischen Anwandlungen, er begehrte auf gegen die "Gaffky-Skala", jenes Untersuchungssystem, wonach im Laboratorium drunten, oder dem "Labor", wie man gewöhnlich sagte, der Grad erkundet und bezeichnet wurde, in welchem ein Patient mit Bazillen behaftet war: ob diese nur ganz vereinzelt oder un-zählbar massenhaft in dem analysierten Probestoff sich vorfan-den, das bestimmte die Höhe der Gaffky-Nummer, und auf diese eben kam alles an. Denn völlig untrüglich drückte sie die Genesungschance aus, mit der ihr Träger zu rechnen hatte; die Zahl der Monate oder Jahre, die jemand noch würde zu ver-weilen haben, war unschwer danach zu bestimmen, angefangen von der halbjährigen Stippvisite bis hinauf zu dem Spruche "Le-benslänglich", der zeitlich genommen oft genug nun wieder nur allzu wenig besagte. Gegen die Gaffky-Skala denn also em-pörte Joachim sich, offen kündigte er ihrer Autorität den Glau-ben, – nicht ganz offen, nicht gerade gegen die Oberen, aber doch gegen seinen Vetter und sogar bei Tisch. "Ich habe es satt, ich lasse mich nicht länger zum Narren haben", sagte er laut, und das Blut stieg ihm in das tief gebräunte Gesicht: "Vor vier-zehn Tagen hatte ich Gaffky Nr. 2, eine Bagatelle, die besten Aussichten, und heute Nr. 9, bevölkert geradezu, von der Ebene nicht mehr die Rede. Da soll doch der Teufel klug daraus werden, wie es mit einem steht, es ist nicht zum Aushalten. Oben auf Schatzalp liegt ein Mann, ein griechischer Bauer, sie haben ihn aus Arkadien hergeschickt, ein Agent hat ihn hergeschickt, – ein aussichtsloser Fall, es ist galoppierend bei ihm, jeden Tag kann man den Exitus erwarten, aber nie im Leben hat der Mann Bazillen im Sputum gehabt. Dagegen der dicke belgische Hauptmann, der gesund abging, als ich ankam, war Gaffky Nr. 10 gewesen, nur so gewimmelt hatte es bei ihm, und dabei hat-te er bloß eine ganz kleine Kaverne gehabt. Gaffky kann mir gestohlen werden! Ich mache Schluß, ich reise nach Hause, und wenn es mein Tod ist!" So Joachim; und alle waren schmerzlich betreten, den sanften, gesetzten jungen Menschen in solchem Aufruhr zu sehen. Hans Castorp konnte nicht umhin, bei Joachims Drohung, er werde alles hinwerfen und ins Flachland ab-reisen, an gewisse Äußerungen zu denken, die er auf französisch von dritter Seite vernommen. Aber er schwieg; denn sollte er dem Vetter seine eigene Geduld als Muster vorhalten, wie Frau Stöhr es tat, die Joachim wirklich ermahnte, nicht so lästerlich aufzutrotzen, sondern sich in Demut zu schicken und sich ein Beispiel an der Treue zu nehmen, mit welcher sie, Karoline, hier oben ausharre und es sich willenszäh versage, in ihrem Heim zu Cannstatt als Hausfrau zu schalten und zu walten, um dereinst ihrem Mann ein völlig und gründlich genesenes Eheweib in ih-rer Person zurückzuerstatten? Nein, das mochte Hans Castorp denn doch nicht, zumal er seit dem Faschingsfest vor Joachim ein schlechtes Gewissen hatte, – das heißt: sein Gewissen sagte ihm, Joachim müsse in dem, worüber sie nicht sprachen, wovon Joachim aber zweifellos wußte, etwas wie Verrat, Desertion und Treulosigkeit sehen, und zwar in Hinsicht auf ein Paar runder brauner Augen, eine schwach begründete Lachlust und ein Ap-felsinenparfüm, deren Einwirkungen er täglich fünfmal ausge-setzt war, vor denen er aber streng und anständig seine Augen auf den Teller niederschlug … Ja, noch in dem stillen Wider-streben, mit dem Joachim seinen Spekulationen und Aspekten über die "Zeit" begegnete, glaubte Hans Castorp etwas von die-ser militärischen Sittsamkeit, die einen Vorwurf für sein Gewissen enthielt, zu spüren. Was aber das Tal, das dick verschneite Wintertal betraf, an das Hans Castorp von seinem vorzüglichen Liegestuhl aus ebenfalls seine übersinnlichen Fragen richtete, so standen seine Zinken, Kuppen, Wandlinien und braungrünrötlichen Wälder schweigend in der Zeit, umwoben von still fließender Erdenzeit bald leuchtend im tiefen Himmelsblau, bald qualmverhüllt, bald diamanthart glitzernd in Mondnachtzauber, – bald rötlich angeglüht in der Höhe von scheidender Sonne, aber immer im Schnee, seit sechs undenklichen, wenn auch huschartig vergangenen Monaten, und alle Gäste erklärten, sie könnten den Schnee nicht mehr sehen, er widere sie, schon der Sommer habe ihren Ansprüchen in dieser Richtung genügt, aber nun Schneemassen tagein, tagaus, Schneehaufen, Schnee-polster, Schneehänge, das gehe über Menschenkraft, sei Mord für Geist und Gemüt. Und sie setzten farbige Brillen auf, grüne, gelbe und rote, wohl auch um die Augen zu schonen, doch mehr noch fürs Herz.

      Tal und Berge im Schnee seit sechs Monaten schon? Seit sie-ben! Die Zeit schreitet fort, während wir erzählen, – unsere Zeit, die wir dieser Erzählung widmen, aber auch die tief vergangene Zeit, Hans Castorps und seiner Schicksalsgenossen dort oben im Schnee, und sie zeitigt Veränderungen. Alles war auf dem be-sten Wege, sich zu erfüllen, wie Hans Castorp es am Faschings-tage auf dem Heimwege von "Platz" zum Zorne Herrn Settem-brinis mit raschen Worten vorweggenommen hatte: nicht gera-de, daß schon die Sonnenwende in unmittelbarer Aussicht gewesen wäre, aber Ostern war durch das weiße Tal gezogen, der April schritt vor, der Blick auf Pfingsten war frei, bald würde der Frühling anbrechen, die Schneeschmelze, – nicht aller Schnee würde schmelzen, auf den Häuptern im Süden, in den Felsschründen der Rhätikonkette im Norden blieb immerdar welcher liegen, von dem zu schweigen, der auch allsommermo-natlich einfallen, aber nicht liegen bleiben würde; doch unbe-dingt verhieß die Umwälzung des Jahres entscheidende Neu-erungen binnen kurzem, denn seit jener Fastnacht, in der Hans Castorp sich von Frau Chauchat einen Bleistift geliehen, ihr spä-ter denselben auch wieder zurückgegeben und auf Wunsch etwas anderes dafür empfangen hatte, eine Erinnerungsgabe, die er in der Tasche trug, waren nun schon sechs Wochen verflos-sen, – doppelt so viele, als Hans Castorp ursprünglich hatte hier oben bleiben wollen.

      Sechs Wochen verflossen in der Tat seit dem Abend, da Hans Castorp die Bekanntschaft Clawdia Chauchats gemacht hatte und dann so viel später auf sein Zimmer zurückgekehrt war, als der dienstfromme Joachim auf das seine; sechs Wochen seit dem folgenden Tage, der Frau Chauchats Abreise gebracht hatte, ihre Abreise für diesmal, ihre vorläufige Abreise nach Daghestan, ganz östlich über den Kaukasus hinaus. Daß diese Abreise vor-läufiger Art, nur eine Abreise für diesmal sein solle, daß Frau Chauchat wiederzukehren beabsichtigte, – unbestimmt wann, aber daß sie einmal wiederkommen wolle oder auch müsse, des besaß Hans Castorp Versicherungen, direkte und mündliche, die nicht in dem mitgeteilten fremdsprachigen Dialog gefallen waren, sondern folglich in die