Название | Der Zauberberg. Volume 1 |
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Автор произведения | Томас Манн |
Жанр | Зарубежная классика |
Серия | |
Издательство | Зарубежная классика |
Год выпуска | 1924 |
isbn | 978-5-521-05932-4, 978-5-521-05933-1 |
Dieses "Kabinett" war dadurch entstanden, daß man das Eß-zimmer dreifenstrig gemacht und durch die ganze Breite des Hauses gelegt hatte, weshalb nicht, wie sonst bei diesem Haus-typus, Raum für drei Salons, sondern nur für zwei übriggeblieben war, von denen jedoch der eine, senkrecht zum Eßsaal gele-gene, mit nur einem Fenster nach der Straße, unverhältnismäßig tief ausgefallen wäre. Darum hatte man etwa den vierten Teil seiner Länge von ihm abgesondert, eben das "Kabinett", einen schmalen Raum mit Oberlicht, dämmerig und nur mit wenigen Gegenständen ausgestattet: einer Etagere, auf der des Senators Zigarrenschrank stand, einem Spieltisch, dessen Schublade an-ziehende Dinge enthielt: Whistkarten, Spielmarken, kleine Markierbrettchen mit aufklappbaren Zähnchen, eine Schieferta-fel nebst Kreidegriffeln, papierne Zigarrenspitzen und anderes mehr; endlich mit einem Rokoko-Glasschrank aus Palisander-holz in der Ecke, hinter dessen Scheiben gelbseidene Vorhänge gespannt waren.
"Großpapa", konnte der kleine Hans Castorp im Kabinett wohl sagen, indem er sich auf die Zehenspitzen erhob und zu dem Ohr des Alten emporstrebte, "zeig' mir doch, bitte, die Taufschale!"
Und der Großvater, der ohnedies den Schoß seines langen und weichen Gehrocks vom Beinkleid zurückgerafft und sein Schlüsselbund aus der Tasche gezogen hatte, öffnete damit den Glasschrank, aus dessen Innerem es dem Knaben eigentümlich angenehm und merkwürdig entgegenduftete. Es waren allerlei außer Gebrauch befindliche und eben darum fesselnde Gegen-stände darin aufbewahrt: ein Paar geschweifte silberne Arm-leuchter, ein zerbrochenes Barometer mit figürlicher Holz-schnitzerei, ein Album mit Daguerreotypien, ein Likörkasten aus Zedernholz, ein kleiner Türke, hart anzufassen unter seinem buntseidenen Anzug, mit einem Uhrwerk im Leibe, das ihn dereinst befähigt hatte, über den Tisch zu laufen, nun aber schon lange den Dienst versagte, ein altertümliches Schiffsmodell und ganz zu unterst sogar eine Rattenfalle. Der Alte aber nahm von einem mittleren Fach eine stark angelaufene runde silberne Schale, die auf einem ebenfalls silbernen Teller stand, und wies beide Stücke dem Knaben vor, indem er sie voneinander nahm und unter schon oft gegebenen Erklärungen einzeln hin und her bewegte.
Becken und Teller gehörten ursprünglich nicht zueinander, wie man wohl sah, und wie sich der Kleine aufs neue belehren ließ; doch seien sie, sagte der Großvater, seit rund hundert Jah-ren, nämlich seit Anschaffung des Beckens, im Gebrauche verei-nigt. Die Schale war schön, von einfacher, edler Gestalt, ge-formt von dem strengen Geschmack der Frühzeit des letzten Jahrhunderts. Glatt und gediegen, ruhte sie auf rundem Fuße und war innen vergoldet; doch war das Gold von der Zeit schon zum gelblichen Schimmer verblichen. Als einziger Zierat lief ein erhabener Kranz von Rosen und zackigen Blättern um ihren oberen Rand. Den Teller angehend, so war sein weit hö-heres Alter ihm von der Innenseite abzulesen. "Sechzehnhun-dertundfünfzig" stand dort in verschnörkelten Ziffern, und allerlei krause Gravierungen umrahmten die Zahl, ausgeführt in der "modernen Manier" von damals, schwülstig-willkürlich, Wappen und Arabesken, die halb Stern und halb Blume waren. Auf der Rückseite aber fanden sich in wechselnder Schriftart die Namen der Häupter einpunktiert, die im Gange der Zeit des Stückes Inhaber gewesen: Es waren ihrer schon sieben, versehen mit der Jahreszahl der Erb-Übernahme, und der Alte in der Binde wies mit dem beringten Zeigefinger den Enkel auf jeden einzelnen hin. Der Name des Vaters war da, der des Großvaters selbst und der des Urgroßvaters, und dann verdoppelte, verdreifachte und vervierfachte sich die Vorsilbe "Ur" im Munde des Erklärers, und der Junge lauschte seitwärts geneigten Kopfes, mit nachdenklich oder auch gedankenlos-träumerisch sich fest-sehenden Augen und andächtig-schläfrigem Munde auf das Ur-Ur-Ur-Ur, – diesen dunklen Laut der Gruft und der Zeitver-schüttung, welche dennoch zugleich einen fromm gewahrten Zusammenhang zwischen der Gegenwart, seinem eigenen Le-ben und dem tief Versunkenen ausdrückte und ganz eigentüm-lich auf ihn einwirkte: nämlich so, wie es auf seinem Gesichte sich ausdrückte. Er meinte modrig-kühle Luft, die Luft der Ka-tharinenkirche oder der Michaeliskrypte zu atmen bei diesem Laut, den Anhauch von Orten zu spüren, an denen man, den Hut in der Hand, in eine gewisse, ehrerbietig vorwärts wiegen-de Gangart ohne Benutzung der Stiefelabsätze verfällt; auch die abgeschiedene, gefriedete Stille solcher hallender Orte glaubte er zu hören; geistliche Empfindungen mischten sich mit denen des Todes und der Geschichte beim Klang der dumpfen Silbe, und dies alles mutete den Knaben irgendwie wohltuend an, ja, es mochte wohl sein, daß er um des Lautes willen, um ihn zu hören und nachzusprechen, gebeten hatte, die Taufschale wieder einmal betrachten zu dürfen.
Dann stellte der Großvater das Gefäß auf den Teller zurück und ließ den Kleinen in die glatte, leicht goldige Höhlung se-hen, die aufschimmerte von dem einfallenden Oberlicht.
"Nun sind es bald acht Jahre", sagte er, "daß wir dich darüber hielten und daß das Wasser, mit dem du getauft wurdest, da hinein floß … Küster Lassen von St. Jacobi goß es unserem gu-ten Pastor Bugenhagen in die hohle Hand, und von da lief es über deinen Schopf hier in die Schale. Aber wir hatten es ge-wärmt, damit du nicht erschrecken und nicht weinen solltest, und das tatst du auch nicht, sondern im Gegenteil, du hattest vorher geschrien, so daß Bugenhagen es nicht leicht gehabt hatte mit seiner Rede, aber als das Wasser kam, da wurdest du still, und das war die Achtung vor dem heiligen Sakrament, wollen wir hoffen. Und vierundvierzig Jahre sind es in den nächsten Tagen, da war dein seliger Vater der Täufling, und von seinem Kopf floß das Wasser hier hinein. Das war hier im Haus, seinem Elternhaus, drüben im Saal, vor dem mittleren Fenster, und es war noch der alte Pastor Hesekiel, der ihn taufte, derselbe, den die Franzosen als jungen Menschen beinahe erschossen hätten, weil er gegen ihre Räubereien und Brandschatzungen gepredigt hatte, – der ist nun auch schon lange, lange bei Gott. Aber vor fünfundsiebzig Jahren, da war ich es selber, den sie tauften, auch da im Saal, und meinen Kopf hielten sie über die Schale hier, wie sie da auf dem Teller steht, und der Geistliche sprach dieselben Worte wie bei dir und deinem Vater, und ebenso floß das warme, klare Wasser von meinem Haar (es war nicht viel mehr damals, als ich jetzt auf dem Kopfe habe) da in das golde-ne Becken hinein."
Der Kleine blickte empor auf des Großvaters schmales Grei-senhaupt, das eben wieder über die Schale geneigt war, wie zu der längst verflossenen Stunde, von der er erzählte, und ein schon erprobtes Gefühl kam ihn an, die sonderbare, halb träu-merische, halb beängstigende Empfindung eines zugleich Zie-henden und Stehenden, eines wechselnden Bleibens, das Wie-derkehr und schwindelige Einerleiheit war, – eine Empfindung, die ihm von früheren Gelegenheiten her bekannt war, und von der wieder berührt zu werden er erwartet und gewünscht hatte: sie war es zum Teil, um derentwillen ihm die Vorzeigung des stehend wandernden Erbstücks angelegen gewesen war.
Prüfte der junge Mann sich später, so fand er, daß das Bild seines Altervaters sich ihm viel tiefer, deutlicher und bedeuten-der eingeprägt hatte als das seiner Eltern: was möglicherweise auf Sympathie und physischer Sonderverwandtschaft beruhte, denn der Enkel sah dem Großvater ähnlich, soweit eben ein ro-siger Milchbart einem gebleichten und starren Siebziger ähnlich sehen kann. Hauptsächlich aber war es doch wohl für den Alten bezeichnend, der ohne Frage die eigentliche Charakterfigur, die malerische Persönlichkeit in der Familie gewesen war.
Im öffentlichen Sinne gesprochen, so war die Zeit über Hans Lorenz Castorps Wesen und Willensmeinungen schon lange vor seinem Abscheiden hinweggegangen. Er war ein hochchristli-cher Herr gewesen, von der reformierten Gemeinde, streng her-kömmlich gesinnt, auf aristokratische Einengung des gesell-schaftlichen Kreises, in dem man regierungsfähig war, so hart-näckig bedacht, als lebte er im vierzehnten Jahrhundert, wo das Handwerkertum gegen den zähen Widerstand des altfreien Pa-triziertums sich Sitz und Stimme im städtischen Rat zu erobern begonnen hatte, und für das Neue zu schwer zu haben. Sein Wirken war in Jahrzehnte eines heftigen Aufschwungs und vielfältiger Umwälzungen gefallen, Jahrzehnte des Fortschritts in Gewaltmärschen, die an den öffentlichen Opfer – und Wage-mut beständig so hohe Anforderungen gestellt hatten. An ihm aber, dem alten Castorp, das wußte Gott, hatte es nicht gelegen, wenn der Geist der Neuzeit die weit bekannten, glänzenden Siege gefeiert hatte. Er hatte auf Vätersitte und alte Institutionen weit mehr gehalten als auf halsbrecherische Hafenerweiterun-gen und gottlose Großstadt-Alfanzereien, hatte gebremst und abgewiegelt, wo er nur konnte, und wäre es nach ihm gegangen, so sah es in der Verwaltung noch heutigentages so idyllisch-altfränkisch aus wie seinerzeit in seinem eigenen Kontor.
So