Die Sagen des klassischen Altertums. Gustav Schwab

Читать онлайн.
Название Die Sagen des klassischen Altertums
Автор произведения Gustav Schwab
Жанр Зарубежная классика
Серия
Издательство Зарубежная классика
Год выпуска 0
isbn



Скачать книгу

Großvater hatte in einer Bucht des Landes Thessalien die Stadt und das Königreich Iolkos gegründet und dasselbe seinem Sohne Aison hinterlassen. Aber der jüngere Sohn, Pelias, bemächtigte sich des Thrones; Aison starb, und Iason, sein Kind, war zu Chiron dem Zentauren, dem Erzieher vieler großer Helden, geflüchtet worden, wo er in guter Heldenzucht aufwuchs. Als Pelias schon alt war, wurde er durch einen dunkeln Orakelspruch geängstigt, welcher ihn warnte, er solle sich vor dem Einschuhigen hüten. Pelias grübelte vergeblich über dem Sinne dieses Worts, als Iason, der jetzt zwanzig Jahre den Unterricht und die Erziehung des Chiron genossen hatte, sich heimlich aufmachte, nach Iolkos in seine Heimat zu wandern und das Thronrecht seines Geschlechtes gegen Pelias zu behaupten. Nach Art der alten Helden war er mit zwei Speeren, dem einen zum Werfen, dem andern zum Stoßen, ausgerüstet; er trug ein Reisekleid und darüber die Haut von einem Panther, den er erwürgt hatte; sein unbeschorenes Haar hing lang über die Schultern herab. Unterwegs kam er an einen breiten Fluß, an dem er eine alte Frau stehen sah, die ihn flehentlich bat, ihr über den Strom zu helfen. Es war die Göttermutter Hera, die Feindin des Königes Pelias. Iason erkannte sie in ihrer Verwandlung nicht, er nahm sie mitleidig auf die Arme und watete mit ihr durch den Fluß. Auf diesem Wege blieb ihm der eine Schuh im Schlamme stecken. Dennoch wanderte er weiter und kam zu Iolkos an, als sein Oheim Pelias gerade mitten unter dem Volke auf dem Marktplatze der Stadt dem Meeresgotte Poseidon ein feierliches Opfer brachte. Alles Volk verwunderte sich über seine Schönheit und seinen majestätischen Wuchs. Sie meinten, Apollo oder Ares sei plötzlich in ihre Mitte getreten. Jetzt fielen auch die Blicke des opfernden Königes auf den Fremdling, und mit Entsetzen bemerkte er, daß nur der eine Fuß desselben beschuhet sei. Als die heilige Handlung vorüber war, trat er dem Ankömmling entgegen und fragte ihn mit verheimlichter Bestürzung nach seinem Namen und seiner Heimat. Iason antwortete mutig, doch sanft: er sei Aisons Sohn, sei in Chirons Höhle erzogen worden und komme jetzt, das Haus seines Vaters zu schauen. Der kluge Pelias empfing ihn auf diese Mitteilung freundlich und ohne seinen Schrecken merken zu lassen. Er ließ ihn überall im Palaste herumführen, und Iason weidete seine Augen mit Sehnsucht an dieser ersten Wohnstätte seiner Jugend. Fünf Tage lang feierte er hierauf das Wiedersehen mit seinen Vettern und Verwandten in fröhlichen Festen. Am sechsten Tage verließen sie die Zelte, die für die Gäste aufgeschlagen waren, und traten miteinander vor den König Pelias. Sanft und bescheiden sprach Iason zu seinem Oheim: »Du weißt, o König, daß ich der Sohn des rechtmäßigen Königes bin und alles , was du besitzest, mein Eigentum ist. Dennoch lasse ich dir die Schaf- und Rinderherden und alles Feld, das du meinen Eltern entrissen hast; ich verlange nichts von dir zurück als den Königzepter und den Thron, auf welchem einst mein Vater saß«. Pelias war in seinem Geiste schnell besonnen. Er erwiderte freundlich: »Ich bin willig, deine Forderung zu erfüllen, dafür sollst aber auch du mir eine Bitte gewähren und eine Tat für mich ausrichten, die deiner Jugend wohl ansteht und deren mein Greisenalter nicht mehr fähig ist. Denn mir erscheint seit lange in nächtlichen Träumen der Schatten des Phrixos und verlangt von mir, ich solle seine Seele zufriedenstellen, nach Kolchis zum Könige Aietes reisen und von da seine Gebeine und das Vlies des goldenen Widders zurückholen. Den Ruhm dieser Unternehmung habe ich dir zugedacht. Wenn du mit der herrlichen Beute zurückkehrst, sollst du Reich und Zepter in Besitz nehmen«.

      Anlaß und Beginn des Argonautenzuges

      Mit dem Goldenen Vliese aber verhielt es sich also: Phrixos, ein Sohn des böotischen Königs Athamas, hatte viel von der Nebengattin seines Vaters, seiner bösen Stiefmutter Ino, zu dulden. Um ihn vor ihren Nachstellungen zu bewahren, raubte ihn, mit Hilfe seiner Schwester Helle, die eigene Mutter Nephele. Sie setzte die Kinder auf einen geflügelten Widder, dessen Vlies oder Fell von gediegenem Golde war und welchen sie von dem Gotte Hermes zum Geschenk erhalten hatte. Auf diesem Wundertiere ritten Bruder und Schwester durch die Luft über Land und Meere hin. Unterwegs wurde das Mägdlein von Schwindel überwältigt. Sie fiel in die Tiefe und fand ihren Tod in dem Meere, das von ihr den Namen Helles Meer oder Hellespontos erhielt. Phrixos kam glücklich in das Land der Kolchier an der Küste des Schwarzen Meeres. Hier wurde er von dem Könige Aietes gastfreundlich aufgenommen, der ihm eine seiner Töchter zur Gattin gab. Den Widder opferte Phrixos dem Zeus, dem Beförderer der Flucht; sein Vlies gab er dem Könige Aietes zum Geschenk. Dieser weihte dasselbe dem Ares und befestigte es mit Nägeln im einem Haine, der diesem Gott geheiligt war. Zur Bewachung des Goldenen Vlieses bestellte Aietes einen ungeheuren Drachen; denn ein Schicksalsspruch hatte sein Leben vom Besitze dieses Widderfelles abhängig gemacht. Das Vlies wurde in der ganzen Welt als ein großer Schatz betrachtet, und lange trug man sich auch in Griechenland mit der Nachricht von demselben. Manchen Helden und Fürsten gelüstete es darnach; so hatte Pelias nicht falsch gerechnet, wenn er hoffte, seinen Neffen Iason durch die Aussicht auf eine so herrliche Beute zu reizen. Iason ließ sich auch bereitwillig finden; er durchschaute nicht die Absicht seines Oheims, ihn in den Gefahren dieses Zuges untergehen zu lassen, und verpflichtete sich feierlich, das Abenteuer zu bestehen. Die berühmtesten Helden Griechenlands wurden zu dem kühnen Unternehmen aufgefordert. Am Fuße des Berges Pelion, aus einer Holzart, die im Meere nicht fault, wurde unter Athenes Leitung von dem geschicktesten Baumeister Griechenlands ein herrliches Schiff mit fünfzig Rudern erbaut und nach seinem Erbauer Argos, dem Sohne des Arestor, Argo genannt. Es war das erste lange Schiff, auf welchem sich Griechen in die offene See wagten. Die Göttin Athene hatte dazu das weissagende Brett von einer redenden Eiche des Orakels zu Dodona gestiftet, das eine Stelle in dem Tafelwerke fand. Das Schiff war auswendig mit vielen geschnitzten Arbeiten geziert und gleichwohl so leicht, daß es die Helden zwölf Tagesreisen weit auf der Achsel tragen konnten. Als das Fahrzeug fertig und die Helden versammelt waren, wurden die Plätze der Argoschiffer (Argonauten) verlost. Iason war Befehlshaber des ganzen Zuges; Tiphys war der Steuermann; Lynkeus, der Scharfblickende, machte den Lotsen des Schiffs. Im Vorderteile des Schiffs saß der herrliche Held Herakles, im Hinterteil Peleus, der Vater des Achilles, und Telamon, der Vater des Ajax. Im innern Raume befanden sich unter andern Kastor und Pollux, die Zeussöhne, Neleus, der Vater Nestors, Admetos, der Gemahl der frommen Alkestis, Meleager, der Besieger des kalydonischen Ebers, Orpheus, der wundervolle Sänger, Menötios, der Vater des Patroklos, Theseus, nachher König von Athen, und sein Freund Peirithoos, Hylas, der junge Gefährte des Herakles, Poseidons Sohn Euphemos und Oïleus, der Vater des kleineren Ajax. Iason hatte seinen Schild dem Poseidon gewidmet, und vor der Abfahrt wurde ihm und allen Meeresgöttern ein feierliches Opfer mit Gebeten dargebracht.

      Als alle im Schiffe Platz genommen, wurden die Anker gelichtet; die fünfzig Ruderer begannen ihren regelmäßigen Taktschlag; ein günstiger Wind schwellte die Segel, und bald hatte das Schiff den Hafen von Iolkos hinter sich. Orpheus mit lieblichen Harfentönen und begeisterndem Gesang belebte den Mut der Argoschiffer; lustig fuhren sie an Vorgebirgen und Inseln vorbei; erst am zweiten Tage erhob sich ein Sturm und trieb sie in den Hafen der Insel Lemnos.

      Die Argonauten zu Lemnos

      Auf dieser Insel hatten das Jahr zuvor die Weiber alle ihre Männer, ja das ganze männliche Geschlecht, vom Zorn Aphroditens verfolgt und von Eifersucht getrieben, weil jene sich Nebenweiber aus Thrakien geholt hatten, ausgerottet. Nur Hypsipyle hatte ihren Vater, den König Thoas, verschont und in einer Kiste dem Meere zur Rettung übergeben. Seitdem fürchteten sie unaufhörlich einen Angriff von seiten der Thrakier, der Verwandten ihrer Nebenbuhlerinnen, und blickten oft mit ängstlichen Augen nach der hohen See hinaus. Auch jetzt, wo sie das Schiff Argo heranrudern sahen, stürzten sie alle miteinander aufgeschreckt aus den Toren und strömten, mit Waffen angetan, wie Amazonen ans Ufer. Die Helden verwunderten sich höchlich, als sie das ganze Gestade voll von bewaffneten Weibern und keinen Mann erblickten. Sie fertigten in einem Nachen einen Herold mit dem Friedensstabe an die seltsame Versammlung ab, der von den Frauen vor die unvermählte Königin Hypsipyle gebracht wurde und in bescheidenen Worten die Bitte der Argoschiffer um gastliche Rast vorbrachte. Die Königin versammelte ihr Frauenvolk auf dem Marktplatze der Stadt; sie selbst setzte sich auf den steinernen Thron ihres Vaters; ihr zunächst lagerte sich, auf einen Stab gestützt, die greise Amme; dieser zur Rechten und zur Linken saßen je zwei blondhaarige, zarte Jungfrauen. Nachdem sie der Versammlung das friedliche Ansinnen der Argonauten vorgelegt, sprach sie aufgerichtet: »Liebe Schwestern, wir haben eine große Freveltat begangen und in der Torheit uns männerlos gemacht; wir sollten gute Freunde, wenn sie sich uns darbieten, nicht zurückstoßen. Aber