Zwangsvollstreckungsrecht, eBook. Alexander Bruns

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Название Zwangsvollstreckungsrecht, eBook
Автор произведения Alexander Bruns
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Год выпуска 0
isbn 9783811487208



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Anschluss an größere Teilzahlungen zurücknimmt[82]. Die mehrfache Rücknahme eines Antrags auf Herausgabevollstreckung jeweils nach Eingang von Teilzahlungen begründet zumindest dann keinen Vollstreckungsmissbrauch, wenn Gläubiger und Schuldner Ratenzahlungen zur Abwendung der Vollstreckung vereinbart hatten[83].

      6.58

      Rechtsmissbräuchliche Vollstreckung wird am ehesten zu bejahen sein, wenn es um das „Wie“ der Vollstreckung und nicht um ihr „Ob“ geht. Beispiele hierfür sind die Taschenpfändung während der Hochzeitsfeierlichkeiten des Schuldners[84] sowie u.U. die Vollstreckung eines Haftbefehls an hohen kirchlichen Feiertagen[85].

      6.59

      Soweit ein Titel nachträgliche materiellrechtliche Mängel hat, muss sich der Schuldner über § 767 wehren, also z.B. bei Verwirkung[86]. Will er die Rechtskraft durchbrechen, z.B. bei schweren Mängeln des Titels, ist er auf §§ 578 ff. ZPO; 826 BGB zu verweisen; dies gilt auch für den Fall, dass der Schuldner z.B. einen Vollstreckungsbescheid[87] erschlichen hat[88]. Abzulehnen sind Bestrebungen, den Vollstreckungsorganen bei evident unrichtigen Titeln eine Prüfungsbefugnis und ein Ablehnungsrecht einzuräumen[89]. Vollstreckungsorgane können und sollen die Parteien auf Rechtsbehelfe hinweisen (§ 139), die materielles und verfahrensmäßiges Unrecht beseitigen oder minimieren; sie können aber nicht selbst über die Wirkungen eines Titels hinweggehen.

      6.60

      

      Auf materielle Rechte Dritter (z.B. offenkundig fremdes Eigentum, fehlende Gläubigerstellung des Schuldners etc.) kann und soll das Vollstreckungsorgan die Parteien hinweisen, wenn es hierum weiß (§ 139). Falls aber der Gläubiger bei Vorliegen formaler Voraussetzungen auf den Vollstreckungszugriff besteht, muss das Vollstreckungsorgan vollstrecken[90]. Ob es sinnvoll ist, materielle Prüfungspflichten der Vollstreckungsorgane auszuweiten, z.B. bei der Pfändung unpfändbarer Sachen des Gläubigers, der unter Eigentumsvorbehalt geliefert hat (Rn. 4.13, 4.20, 4.27; § 811 Abs. 2 i.d.F. der 2. Zwangsvollstreckungsnovelle 1999), ist zurückhaltend zu beurteilen.

      6.61

      6.62

      Grundsätzlich trifft den Gläubiger deshalb bei Teilforderungsvollstreckung keine Verpflichtung, eine spezifizierte Forderungsaufstellung beizufügen[92]. Der Gläubiger hat allerdings eine Aufstellung der entstandenen Vollstreckungskosten dann beizufügen, wenn er wegen einer Restforderung vollstreckt und die Vollstreckungskosten gemäß § 788 ohne besondere Titulierung beigetrieben werden[93]. Diese Substantiierungspflicht ist das Pendant zur Prüfungspflicht des Vollstreckungsorgans, wie sie für Vollstreckungskosten in diesem Falle durchaus besteht[94]. Nach der Tilgungsreihenfolge des § 367 Abs. 1 BGB betrifft die Vollstreckung der Restforderung zwar die Hauptforderung; in welcher Höhe die Hauptforderung aber noch besteht, hängt wiederum von der Höhe der Vollstreckungskosten ab. Anders gelagert ist die Problematik, wenn für die Vollstreckung einer Restforderung die Höhe angefallener Zinsen von Bedeutung ist. Hier sind zwar die Zinsen vom Titel erfasst. Sind aber bei der Zinsberechnung vom Vollstreckungsorgan zu berücksichtigende Teilzahlungen geleistet, läuft der Gläubiger Gefahr, dass seinem Vollstreckungsantrag wegen Unbestimmtheit nicht oder nicht in korrekter Höhe stattgegeben wird[95]. Um dies zu vermeiden, wird der Gläubiger eine nachvollziehbare Abrechnung vorlegen, aus der sich der noch offene Restbetrag ergibt.

      6.63

      

      Die Diskussion um den Formalisierungsgrundsatz zeigt die Stärken und Schwächen des Maximendenkens besonders deutlich: der Verfahrensgrundsatz ist die Leitlinie für die Lösung des Interessenkonflikts, die Ausnahme bedarf besonderer Begründung. Gäbe es keine Ausnahme, wäre die Maxime zu Tode geritten; allzu wuchernde Ausnahmekasuistik ist indessen das sichtbare Zeichen eines Regelzerfalls, der willkürlich anmutende und unvorhersehbare Ergebnisse zeitigt.

5. Numerus clausus der Vollstreckungsarten

      6.64

      Der Begriff des numerus clausus der Vollstreckungsarten ist dem sachenrechtlichen numerus clausus nachgebildet[96]. Er besagt dort wie hier, dass Typenzwang und Typenfixierung besteht: Gläubiger und Vollstreckungsorgane können nur die gesetzlich vorgesehenen und gesetzlich ausgeformten Vollstreckungsarten benutzen, nur sie muss der Schuldner dulden. Es ist nicht möglich, neue Vollstreckungsarten zu schaffen oder Mischformen zu bilden.

      6.65

      Der numerus clausus der Vollstreckungsarten ist im geltenden Vollstreckungsrecht nirgends ausdrücklich formuliert. Das Gesetz beschreibt vielmehr nur die einzelnen Vollstreckungsarten (Rn. 2.9 ff.). Der numerus clausus folgt indessen aus der Gesetzesbindung staatlicher Eingriffe in die Freiheitsrechte des Schuldners (Rn. 2.6, 5.12 ff.; 7.26).

      6.66

      

      Die Vollstreckung kann also z.B. nicht durch Zwangsarbeit des Schuldners erfolgen, etwa in der Weise, dass der Schuldner mit den Beugemitteln der §§ 888, 890 bedroht wird, falls er die Schuld nicht abarbeitet (s.a. Rn. 25.6, 30.7, 40.27). Fragwürdig ist die Konstruktion schuldnerischer Mitwirkungspflichten bei der Geldforderungsvollstreckung, die über die Pflicht zur Vermögensauskunft hinausgehen und durch Zwangshaft (§ 888) zu vollstrecken sind[97], weil die Grenzen von Realvollstreckung und Personalvollstreckung zerfließen und ein der Schuldhaft vergleichbares Vollstreckungsinstrument geschaffen wird. Wer einen Unterlassungstitel hat, kann nicht die Ergebnisse unterlassungswidrigen Verhaltens (z.B. wettbewerbswidrige Werbeschilder) im Wege der Ersatzvornahme beseitigen lassen etc.[98]. Problematisch ist unter diesem Aspekt auch die Vollstreckung durch Umschuldung: der Gläubiger pfändet den Darlehensauszahlungsanspruch des Schuldners und befriedigt sich durch die Auszahlung, wobei der Schuldner nunmehr einen neuen Gläubiger hat[99].

      Schrifttum:

      Lippross, Grundlagen und System des Vollstreckungsschutzes, 1983; Henckel, Prozessrecht und materielles Recht, 1970, S. 349 ff.; Stürner, ZZP 99 (1986), 318 ff.

      6.67

      Der Grundsatz des beschränkten Vollstreckungszugriffs beinhaltet zweierlei: keine Vollstreckung bei fehlendem Vollstreckungsinteresse, also Schutz vor „unnötigen“ Vollstreckungsmaßnahmen, und Schutz vor dem Zugriff auf persönliche und existenznotwendige Gegenstände bzw. Einkommensbestandteile.