Handbuch des Verwaltungsrechts. Группа авторов

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isbn 9783811488625



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Rechts hat zur Herausbildung eines Unionsverwaltungsrechts geführt.[2] Zugleich wurde seit den 2000er-Jahren zunehmend erkannt, dass es beim Verhältnis des nationalen Rechts zum europäischen Verwaltungsrecht um mehr geht als die Überlagerung und Überformung[3] der mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechtssysteme. In Rede steht zugleich die ebenenübergreifende Verknüpfung des Verwaltungshandelns in einem gegliederten europäischen Verwaltungsraum.[4] Die Begriffswahl zur Beschreibung solcher supranationaler Verflechtungen des Verwaltungshandelns ist uneinheitlich. In jüngerer Zeit hat sich der Terminus des „Europäischen Verwaltungsverbunds“ etabliert.[5] Daneben sind Bezeichnungen wie „Verwaltungskooperation“[6], „Mehrebenenverwaltung“[7], „Mischverwaltung“[8], „einheitlicher Verwaltungsraum“[9], „kodependentes Verwaltungshandeln“[10] oder „Verwaltungsgemeinschaft“[11] zu finden.[12] Nachfolgend gilt es zunächst das neue Paradigma der Verbundverwaltung zu umreißen und abzugrenzen (B.), bevor ihre Funktionen beleuchtet werden können (C.). Hieran anknüpfend ist der Fokus auf die im Verwaltungsverbund handelnden Akteurinnen und Akteure (D.) sowie die eingesetzten Handlungsformen und Instrumente (E. und F.) zu richten. Ausführungen zum Verwaltungsrechtsschutz runden die Analyse der supranationalen Verflechtung ab (G.).

B. Europäischer Verwaltungsverbund als neues Paradigma

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      Vollzugsteilung und -verflechtung

      Der europäische Verwaltungsverbund umschreibt die Vernetzung der mitgliedstaatlichen und unionalen Verwaltungen zu einem Informations-, Entscheidungs- und Kontrollverbund.[13] Er ist darauf ausgerichtet, sowohl Unionsrecht als auch unionsrechtlich harmonisiertes nationales Recht zu vollziehen. Innerhalb des Verbunds besteht zwar eine organisatorische Trennung zwischen den Verwaltungsräumen von Mitgliedstaaten und Union.[14] Bei der Vornahme von Verwaltungshandlungen wird jene Trennlinie aber durch funktionale Zusammenarbeit überwunden.[15] In diesem Sinne erweisen sich Vollzugsteilung und -verflechtung, Trennung und Kooperation als zentrale Elemente des Verwaltungsverbunds.[16]

      3

      Verbot der Mischverwaltung

      Die im Grundsatz festzustellende Trennung der Vollzugsformen und ihre funktionale Überwindung prägt auch das Primärrecht. Einerseits folgt aus dem Zusammenspiel der Absätze 1 und 2 des mit dem Vertrag von Lissabon implementierten Art. 291 AEUV ein Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen nationalem und unionalem Vollzug.[17] Andererseits wird die Verteilung der Durchführungskompetenzen durch das zum gleichen Zeitpunkt ins Primärrecht aufgenommene Kooperationsgebot des Art. 197 Abs. 1 AEUV ergänzt.[18] Danach stellt „[d]ie für das ordnungsgemäße Funktionieren der Union entscheidende effektive Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten“ eine „Frage von gemeinsamem Interesse“ dar. Diese Kooperation kann von der Union in den Formen, unter den Voraussetzungen und in den Grenzen von Art. 197 Abs. 2 AEUV unterstützt werden. Dergestalt erfolgt eine Auflösung der „Antagonie zwischen Unionsvollziehung und nationaler Vollziehung“ zugunsten einer Öffnung für die Verwaltungszusammenarbeit zwischen beiden Ebenen.[19] Bedenkt man weiter, dass im Lichte der allgemeinen Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) die effektive Aufgabenerfüllung stärker im Vordergrund steht als im Bund-Länder-Verhältnis auf nationaler Ebene, so wird einsichtig, weshalb dem Unionsrecht ein prinzipielles Verbot der Mischverwaltung gerade nicht immanent ist.[20]

      4

      Kooperation und Hierarchie

      Unter dem deskriptiven Ordnungskonzept[21] des Verwaltungsverbunds sollen vielmehr die Prinzipien der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie einerseits sowie der Effektivität und Äquivalenz andererseits zusammengeführt werden.[22] Inhaltlich geht es um auf Dauer angelegte (nicht nur punktuell-sporadische) Kooperations- und Verflechtungsphänomene. Diese können sowohl vertikal zwischen EU-Administration und mitgliedstaatlichen Verwaltungen als auch horizontal zwischen den nationalen Verwaltungen unter dem Dach der Union angelegt sein.[23] Damit lässt sich der Verbund als „Verschränkung zweier Organisationsprinzipien, der Prinzipien der Kooperation und der Hierarchie“[24], begreifen.

      5

      Intensitätsschwelle

      In Abgrenzung von der bloßen Verwaltungskooperation müssen diese Verflechtungsphänomene eine gewisse Intensitätsschwelle überschreiten, damit von einem Verwaltungsverbund gesprochen werden kann.[25] Mit Blick auf die schwierig zu ermittelnde (graduelle) Trennung werden unterschiedliche Anforderungen formuliert. Richtigerweise setzt die Annahme einer Verbundverwaltung notwendig voraus, dass sich im Verhältnis zwischen europäischen und mitgliedstaatlichen Verwaltungsstellen auch Elemente hierarchischer Verwaltung finden.[26] Diese können z. B. in einer Betrauung der Kommission mit übergeordneten Aufsichts- und Kontrollbefugnissen oder in der Einräumung von Selbsteintrittsrechten bestehen.[27] Wenn hiergegen eingewandt wird, dass „Verbindungen“ auch auf Ebene der Gleichordnung erfolgen können,[28] wird übersehen, dass sich der Verwaltungsverbund als Steigerung einer bloßen Verwaltungskooperation durch die substanzielle Verschränkung beider Organisationsprinzipien auszeichnet. Zu restriktiv erscheint es freilich, wenn eine Zusammenarbeit in allen Phasen der Entscheidungsfindung und Durchführung gefordert wird.[29] Ein solches Erfordernis der Omnipräsenz würde das Verbundkonzept unnötig einengen.[30]

      6

      Typologie der Verbundsysteme

      Zur weiteren Systematisierung der vielgestaltigen Erscheinungsformen einer Vollzugsteilung und -verflechtung dient die auf Wolfgang Kahl zurückgehende „materiale Typologie“ der Verbundsysteme.[31] Danach gliedert sich der Europäische Verwaltungsverbund zunächst in die Kerntypen des Vollzugs-, Lenkungs- und Aufsichtsverbunds.[32] Hinzu treten als nicht trennscharf zuordenbare „Mischformen“ der Regulierungs- und der Planungsverbund.[33] Den übrigen Verbundtypen vorgelagert ist schließlich der querschnittsartige Informationsverbund, dem eine primär dienende Funktion als wesentliche Voraussetzung für eine(n) wirksame(n) Vollzug, Lenkung, Aufsicht, Regulierung und Planung zukommt.[34] In konkreten Referenzgebieten treten diese unterschiedlichen Verbundsysteme regelmäßig in Kombination auf.[35] Die vorstehende Typologie liefert daher eine wertvolle Hilfestellung bei der Bestimmung des Telos von Verbundverfahren, ohne dass damit freilich eine trennscharfe Systematisierung verbunden wäre.

      7

      

      Ausdifferenzierung der Kategorien von Verbundverfahren

      Eine weitere Ausdifferenzierung der vertikalen und horizontalen Verbundverfahren hat Thorsten Siegel vorgeschlagen und anhand des REACH-Systems für Chemikalien[36] veranschaulicht.[37] Danach finden erstens gestufte Verfahren zunächst innerhalb europäischer Einrichtungen („intravertikal“) statt. Zweitens existieren vertikale Stufungen zwischen der EU-Verwaltung und den mitgliedstaatlichen Stellen („intervertikal“). Die „interhorizontale“ Vernetzung beschreibt drittens eine solche zwischen verschiedenen Mitgliedstaaten. Viertens sollen „intrahorizontale“ Verfahren die Unionseinrichtungen miteinander vernetzen, ohne abstufenden Charakter aufzuweisen. Die Typologisierung veranschaulicht einerseits prägnant den Facettenreichtum der vertikalen und horizontalen Verbundstrukturen beim Vollzug des Unionsrechts. Andererseits ist im Blick zu behalten, dass prägend für den europäischen Verwaltungsverbund die Vernetzung der mitgliedstaatlichen und unionalen Verwaltungen, mithin eine Beteiligung unterschiedlicher Rechtsträger, ist. Vor diesem Hintergrund können rechtsträgerinterne („intravertikale“ und „intrahorizontale“) Verflechtungen von vornherein nur einen ergänzenden Baustein bilden, nicht aber als solche die Existenz eines Europäischen Verwaltungsverbunds begründen.

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      Systembildung für die Verwaltungskooperation

      Als wirkmächtiger im wissenschaftlichen Diskurs erwies sich eine auf Gernot Sydow zurückgehende neue Systembildung für die Verwaltungskooperation beim Vollzug des Unionsrechts. Danach existieren vier Grundmodelle, die in unterschiedlichen Ausgestaltungen durch das einschlägige EU-Sekundärrecht reflektiert werden und sowohl vertikale als auch horizontale Verbundstrukturen erfassen. Namentlich handelt es sich um das „Direktvollzugsmodell“,