Название | Handbuch des Aktienrechts |
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Автор произведения | Hans-Peter Schwintowski |
Жанр | |
Серия | C.F. Müller Wirtschaftsrecht |
Издательство | |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783811443150 |
5.1 Die Arbeit am Deutschen Corporate Governance System
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Das Deutsche Corporate Governance-Regelwerk ist ein System. Systemhaftigkeit bedeutet Komplementarität der Systemelemente und Konsistenz der Merkmalausprägungen.[67] Bei jeder Änderung einer einzelnen Komponente muss man die Auswirkung auf alle anderen bedenken. Vereinfachend wird oft das deutsche System „interner“ dem angloamerikanischen System „externer“ (verstärkt auf Marktkontrollen setzender) Corporate Governance gegenübergestellt.[68] Jedenfalls hat unser System in der Vergangenheit, also vor allem in den Wirtschaftswunderjahren, gute Ergebnisse ermöglicht und auch die Finanzkrise der Jahre 2008 f. sehr gut überstanden. Das hat das Selbstbewusstsein vor allem gegenüber Kritik aus dem anglo-amerikanischen Bereich deutlich gestärkt.
5.2 Die Ursachen des Reformbedarfs
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Unser deutsches aktienrechtliches Corporate Governance System ist auf dem Boden ganz bestimmter ökonomischer und gesellschaftlicher Bedingungen gewachsen.[69] In dem Maße, wie die äußeren Bedingungen sich verändern, entsteht kontinuierlich Anpassungs- und Reformbedarf. Unabhängig von vorübergehenden Börsenhaussen und -baissen lassen sich folgende langfristige Veränderungen der äußeren Systembedingungen festhalten:
– | Die Globalisierung der Weltwirtschaft und die Internationalisierung der Finanzmärkte; |
– | Eine Verschiebung weg von der Fremd- und Innenfinanzierung und dem Hausbankenverhältnis hin zur Eigenkapitalfinanzierung über die Börse. |
– | Spiegelbildlich dazu veränderte sich das Verhalten der Anleger; der Trend ging weg vom Sparbuch hin zur Risikokapitalanlage und bei der Altersversorgung hin zur Kapitalstockfinanzierung. |
– | Deutsche Unternehmen befanden sich bisher zumeist im Kontrollbesitz von Großaktionären (Familien, Banken, Versicherungen, wechselseitige Beteiligungen). Wir konstatieren in den letzten 25 Jahren ein Aufbrechen der sog. Deutschland-AG, einen Rückzug der Banken aus den industriellen Beteiligungen, eine Veränderung der Aktionärsstruktur hin zu einem höheren Anteil von Streubesitz oder Beteiligungen von Private-Equity-Fonds, vermehrte Börsengänge (jedenfalls bis zum Platzen der Neuer-Markt-Euphorie um 2001), sowie einen wesentlich höheren Anteil ausländischer Aktionäre, insbesondere institutioneller Anleger, darunter auch sog. Aktive und aktivistische Investoren (Hedgefonds etc.). |
5.3 Die Wirkungen des veränderten Umfeldes
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Bekanntlich ist die politische Corporate Governance Debatte in Deutschland weniger grundlagen-theoretisch als skandalgetrieben. Das erklärt den amplitudenförmigen Diskussionsverlauf. Skandale und Unternehmenskrisen sind aber nur die äußeren Anlässe, der wahre Motor des andauernden Reformprozesses beruht auf den oben beschriebenen Änderungen der ökonomischen Einflüsse auf unser System. Das erfordert keinen radikalen Umbruch, aber allmähliche Anpassungen. Aus diesen Verschiebungen der Systemgrundlagen resultieren folgende Einflussfaktoren auf die rechtspolitische Diskussion:
– | Wenn internationaler Streubesitz an die Stelle herkömmlicher Kontrollmechanismen (durch industrielle Beteiligungen, Banken) tritt, verschärft sich das Principal Agent-Problem, es entsteht ein Macht-Vakuum, das in der sog. Deutschland-AG nicht bestand. Dieses Vakuum kann zu einem Kontrolldefizit gegenüber Vorständen führen, es kann aber auch von aktiven Investoren genutzt werden, die mit begrenztem Aufwand großen Einfluss zu erzielen suchen. |
– | Aufgrund der Internationalisierung der Finanzmärkte stehen die deutschen Gesellschaften bei der Nachfrage nach Risikokapital im Wettbewerb mit Anlagealternativen. |
– | Die ausländischen Anleger erwarten die Erfüllung international üblicher Benchmarks von den Unternehmensergebnissen (Eigenkapitalrendite). Überdies erwarten sie die ihnen gewohnten Regelungsmuster auch vom deutschen Aktienrecht, wobei die Frage danach, welche die bessere Regelung ist, keine entscheidende Rolle spielt (z.B. erleichterte Kapitalerhöhung ohne Bezugsrechtsausschluss, Eigenerwerb von Aktien, Stock-Options-Programme, nennwertlose Aktien (Stückaktien), Namensaktien, Audit Committee, CEO statt Vorstand,[70] TransPuG: Sachdividenden, Corporate Governance Kodex: Cromme Kodex[71] etc.). |
– | Dadurch bedingt verlief und verläuft insbesondere die Corporate Governance-Diskussion nach ausländischem Muster[72] (Aufwertung des Aufsichtsrats, Unabhängigkeit der AR-Mitglieder, Qualität der Abschlussprüfung, Erhöhung der Pflicht zur Transparenz gegenüber den Aktionären und dem Kapitalmarkt, Einführung eines Corporate Governance Kodex). |
– | Angesichts wiederkehrender Krisen (2001/02 und 2008 f.) tun die Jurisdiktionen gut daran, sich um „restoring confidence“, um Wiederherstellung des Vertrauens der weltweiten Anleger, zu bemühen. Eine solide Corporate Governance vermittelt Vertrauen und: Vertrauen ist ein Mechanismus zur Reduktion von sozialer Komplexität (Niklas Luhmann). |
– | Der Einfluss des Kapitalmarktes auf das Aktienrecht der Publikumsgesellschaften hat insgesamt zugenommen (z.B. kleine AG: Trennung zwischen nichtbörsennotierten und börsennotierten AG (1994); WpHG (1994), WpÜG (2001) – Übernahmerecht, SpruchG (2003), KapMuG (2012), Delisting-Neuregelung (2015) u.v.m.). |
– | Bei international operierenden Konzernen mit mehrheitlicher Belegschaft im Ausland stellen sich Fragen der Internationalisierung der Organe einschließlich der Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat, also auch für die deutsche Mitbestimmung.[73] |
– | Angesichts der hohen Zahl von Aktionären in großen Gesellschaften (bis zu einer Mio.) und ihrer internationalen Streuung, sowie angesichts des Massengeschäfts der Wertpapiertransaktionen nahm der Druck zum Einsatz neuer Kommunikations-Medien im Gesellschaftsrecht und auf Verbesserung der Rahmenbedingungen für die grenzüberschreitende Ausübung von Aktionärsrechten zu[74] (Herunterfahren von Schriftformerfordernissen, Einführung des elektronischen Aktienregisters, elektronische Stimmrechtsausübung, Zulässigkeit elektronischer Aufsichtsratssitzungen, record date, Hauptversammlung im Internet, elektronische Bekanntmachung, Aufgabe der „Gesellschaftsblätter“, elektronisches Handels- und Unternehmensregister, Aktionärsrechte-Richtlinie der EU usw.). Insbesondere gerät auch die herkömmliche Präsenz-Hauptversammlung in eine Sinnkrise, die physischen Teilnehmer vor Ort repräsentieren in keiner Weise mehr die tatsächliche Aktionärsstruktur, die HV-Präsenzen sinken, das Medium Internet gewinnt an Boden (Bsp. Online-HV, virtuelle HV,[75] Übertragung der Hauptversammlung im Internet, Herausverlagerung von Informationen aus der Präsenz-HV in das Internet). Die EU-KOM plant in 2016/2017 ein Projekt „Digitalisierung des Gesellschaftsrechts“. |
– | Nach der Finanzkrise 2008/2009 ist das Regelungskorsett im regulierten Bereich (Banken, Versicherungen) nahezu erstickend geworden. Das allgemeine Gesellschaftsrecht wird zunehmend von einem Sondergesellschaftsrecht überlagert.[76] |
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