Название | Augenschön Das Herz der Zeit (Band 3) |
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Автор произведения | Judith Kilnar |
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Серия | |
Издательство | |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783964640079 |
Schließlich trat Tatjana vor. »Herzlich willkommen zurück. Zum Glück lebt ihr beide noch, obwohl euer Zustand nicht gerade erfreulich ist.«
»Danke«, antwortete Atlas für uns beide. »Aber wie es uns geht, ist nicht so wichtig. Viel entscheidender ist: Bereitet ihr euch schon auf den Kampf vor? Und wenn ja, seit wann?«
Tatjana blinzelte perplex, als Atlas sofort zum Thema kam: »James hatte ‒ wie soll ich es sagen? ‒ einen vorübergehenden Gedächtnisverlust. Er konnte sich nicht mehr so genau an eure Reise erinnern. Erst vor gut einem Monat ist ihm eingefallen, dass wir uns auf einen Kampf vorbereiten müssen. Habt ihr genauere Informationen, wann dieser Kampf sein soll?«
Mir wurde kalt. Vor einem Monat hatte man erst begonnen, Vorbereitungen zu treffen? Vor nur einem Monat hatte man angefangen, sich für den schrecklichsten Kampf in der Geschichte der Augenschönen zu wappnen? Und das würde er zweifellos werden. Ein Monat war zwar besser als nur ein paar Tage, doch würde es trotzdem ausreichen?
»Wir haben nicht mehr viel Zeit, etwa einer Woche«, brachte Atlas die anderen auf den aktuellen Stand. »Darum sollten wir so viel vorbereiten wie nur möglich.«
»Eine Woche?« Tatjanas Stirn legte sich besorgt in Falten. »Das ist … wenig.«
Mr Starrson trat vor. Sein Blick huschte zu mir, und er räusperte sich, damit man ihm die Aufmerksamkeit zuwandte. »Ich freue mich ebenfalls, dass ihr lebend zurück seid. Ähm … und auch wenn wir wenig Zeit haben, möchte ich dennoch erfahren … ähm… was mit dir geschehen ist, Lucy. Ich meine, ähm … du bist doch Lucy, oder?«
Nervös fixierte ich meine Finger, als erneutes Gemurmel aufkam, und rubbelte mir ein bisschen Blut von meinem Handrücken. War es meines? Das der Nächtlichen Geschöpfe? Von Atlas? Ich rubbelte heftiger. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Atlas Mr Starrson empört ansah und den Mund öffnete, doch ich stieß ihm gegen sein Bein. Er sollte mich nicht verteidigen.
»Lucy?«
Tatjanas Stimme war weich, vorsichtig und nicht befremdet oder angewidert. Also hob ich langsam den Kopf und erwiderte den ruhigen Blick ihrer grauen Augen mit meinem blutroten. Doch dann weiteten sich ihre, als auch sie die Veränderung bemerkte, und nun zeichnete sich doch Erschrecken in ihrem Gesicht ab.
»Oh Gott, Lucy!«
Eine Person drängte sich an der Nele vorbei, die die ganze Zeit hinter ihr gestanden hatte, und umarmte mich heftig. »Ich bin so unendlich froh, dass du wieder da bist!« Rose’ Stimme zitterte, und es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder von mir löste. Jetzt war ihr weißes Shirt blutbefleckt und ihre Hände und die Jacke ebenfalls, doch sie bemerkte es nicht einmal, oder es kümmerte sie nicht.
»Ich glaube, du brauchst erst einmal Ruhe.« Sie wechselte einen kurzen Blick mit Atlas, bevor sie sich an Tatjana, Mr Starrson und die Gruppe hinter ihnen wandte. »Lucy kommt erst einmal mit mir. Sie muss sich erholen, es geht ihr nicht gut. Später wird sie euch alles erzählen, was ihr wissen wollt.«
Mir wurde erneut bewusst, warum ich Rose so sehr vermisst hatte. Ich war unendlich dankbar für ihren Freundinneninstinkt, der erkannte, dass es mir schlecht ging. Und, wie sie sich sofort wieder um mich kümmerte. Sie legte einen Arm um mich und schob mich an den anderen vorbei. Während wir die Meute vor uns durchquerten, sah ich nicht auf und stolperte unkontrolliert neben ihr her. Niemand sollte die roten Augen sehen. Doch noch während ich mir Gedanken über die Reaktion der anderen machte, merkte ich, dass es mir eigentlich egal war. Was zählte schon, was andere über mich dachten, wenn ohnehin alles seinen Sinn verloren hatte?
Das Laufen fiel mir schwer, und meine Wunden pochten unangenehm schmerzhaft. Ich war froh, als wir uns dem Hof näherten, ihn überquerten und auf das Wohnhaus 2 zuhielten.
Rose schwieg die ganze Zeit über, stellte mir keine Fragen über die Reise oder mein Aussehen, sondern war einfach nur da. Genau das, was ich brauchte.
Das Glas der Eingangstür war beschlagen, und erst jetzt merkte ich, wie kalt es hier war. Mein Atem bildete kleine Wölkchen, und ich bibberte. Rose trug über ihrem langärmligen Shirt eine dicke, gefütterte Jacke. Allerdings hatte sie sie offen gelassen. Vielleicht, weil sie es eilig gehabt und dann vergessen hatte, sie zu schließen?
Meine Beine knickten bei der ersten Treppenstufe leicht weg, und Rose trug mich mehr hinauf, als dass ich selbst gegangen wäre. Bei meiner Wohnungstür ließ sie mich kurz los, um aufzuschließen. Ich lehnte mich gegen die Wand und presste die Stirn dagegen, in der Hoffnung, dass der Schwindel durch die Kühle verschwand.
Rose lotste mich durch die geöffnete Tür und schaltete das Licht an. Ich streifte die Schuhe ab und hängte die zerrissenen Reste meiner Jacke an einen Haken an der Wand.
»Geh unter die warme Dusche. Ich versuche inzwischen, etwas Anständiges zu essen für dich aufzutreiben. Bin gleich wieder da.« Sie drückte mich noch einmal fest, bevor sie durch die Tür verschwand.
Wie ferngesteuert tat ich, was sie mir geraten hatte. Ich schleppte mich ins Bad und stellte das Duschwasser an, damit es schon einmal aufwärmte. Dann wandte ich mich dem Spiegel zu. Eine der Haarbürsten in die Hand zu nehmen, um mir meine zerzausten Haare zu kämmen, war überflüssig. Wie üblich glänzten meine schwarzen Locken seidig. Doch ich achtete kaum darauf. Ich schaute mein Spiegelbild an und versuchte, es mit meinem alten zu vergleichen. Was war alles anders? Was war nicht anders? Doch das Einzige, was mich ansprang, waren die blutroten Augen: die größte Veränderung. Ich starrte mich so lange an, ohne zu blinzeln, bis meine Augen zu brennen begannen und ich mich abwandte.
Einen kurzen Moment betrachtete ich verwirrt die Dusche, überlegte, was ich hier eigentlich wollte, und dann fiel es mir wieder ein.
Ich stieg einfach unter den Wasserstrahl, ohne mir Hose oder Shirt auszuziehen. Das Wasser war immer noch kalt, und ich bemerkte, dass ich den falschen Knauf gedreht hatte. Es war mir egal. Ein trockenes Schluchzen stieg in meiner Kehle auf, und ich torkelte gegen die Wand. Kraftlos ließ ich mich an ihr entlang nach unten gleiten, während das eisige Wasser meine Haare und Kleider überspülte. Ich schlang die Arme um die Knie und starrte ausdruckslos vor mich hin. Immer mehr Wasser durchdrang meine Haare und ließ sie zu leicht kringeligen Wellen werden, die wie ein Vorhang um mich herumfielen und auf dem Duschboden aufkamen.
Es war das erste Mal, seitdem es passiert war, dass ich richtig weinte. Dass Tränen versuchten, meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen … dass ich die Kontrolle komplett verlor. Ich bemerkte kaum, wie die Kälte in mich eindrang, wie das Bibbern stärker wurde, meine Haut eine Gänsehaut bildete und wie sich der weiße Boden rot färbte von dem Blut, das das Wasser von mir abwusch. Ich bemerkte auch kaum, wie meine Wunden ausgespült wurden und sich langsam verschlossen. Nein, ich bekam das alles nicht wirklich richtig mit, denn die Leere hatte mich verschlungen und mir sämtliche Sinne, Regungen und Gefühle, auch meinen Willen genommen.
Als die dünne Glastür der Dusche geöffnet wurde, ließ mich das Quietschen kurz zusammenzucken. Ich schaute auf, blinzelte das Wasser aus meinen Augen und sah Rose. Ich hatte wohl ihr Klopfen überhört.
Sie war mit einem Stapel sauberer Kleidung beladen, den sie auf dem kleinen Hocker ablegte, bevor sie sich durch den schmalen Spalt zu mir in die Dusche zwängte. Sie war ebenfalls komplett angezogen, und ihre Socken wurden sogleich von dem kalten Wasser durchdrungen.
»Das ist aber eisig!«, war ihr einziger Kommentar. Sie drehte sich zur Wand, um die Temperatur umzustellen.
Kurz darauf flossen die ersten Ströme von wärmerem Wasser über mich und fingen an, die Gänsehaut zu verscheuchen. Rose kam ganz in die Dusche und schloss die Tür hinter sich. Danach ging sie in die Knie und setzte sich neben mich, an die Wand gelehnt. Eine Weile saß sie nur da, sagte nichts und ließ das Wasser sie komplett durchnässen. Schließlich seufzte sie. »Willst du mir sagen, was los ist? Ich weiß, dass es nicht die Reise an sich ist …«
Ich blieb stumm, hob nur leicht den Kopf von meinen Knien