Himmel (jetzt reicht's aber). Andrea Ross

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Название Himmel (jetzt reicht's aber)
Автор произведения Andrea Ross
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Издательство
Год выпуска 0
isbn 9783967525328



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Zentrale der Macht verwandelte sich augenblicklich in eine Art IMAX-Kino, nur ohne technische Hilfsmittel. Stephen beobachtete sein früheres Selbst beim Auftritt vor diesem Tribunal. Sah, wie man ihn über die Bedeutung der Zahl 12 in Kenntnis gesetzt, ihm Lenas Kindheit und Jugend präsentiert und schließlich erklärt hatte, dass er sie unbedingt beschützen sollte. Vor allem hatte er Sorge dafür zu tragen, dass Lena nicht noch vor der Geburt ihrer Tochter, des neuen Messias, Selbstmord begehen würde. Was er zwar unter dem Strich gemeistert hatte, jedoch nach Meinung des Tribunals in höchst unzulänglicher Manier.

      Es folgte die Zusammenfassung seiner zweiten Existenz auf Erden. Stephen tat sich selber Leid, all seine vergeblichen Bemühungen noch einmal mitansehen zu müssen, die Welt zu retten oder wenigstens den Ablauf seines parallelen Lebens auf die vertraute Schiene des ersten zu lenken, um nur noch die finale Sequenz seines unrühmlichen Abganges verändern zu müssen. Aber kleinste Abweichungen hatten seinen Lebensweg dieses Mal in eine komplett andere Richtung geführt, ihn wider Willen andere Abzweigungen auf dem Lebensbaum nehmen lassen. Sein verzweifeltes Gegensteuern hatte nichts gebracht.

      Genau! Yggdrasil, die Weltenesche. Die Spanierin Mercedes hatte ihm einst mühevoll diese Zusammenhänge begreiflich gemacht, in der virtuellen Zusammenfassung seines Lebens hatte er diese interessante Frau soeben wiedersehen können.

      Bald schon war die Vorführung an dem Punkt angelangt, als Steve sich mit Leib und Seele in seines Vaters Software-Firma LAMANTEC AG einbrachte und blind vor lauter Feuereifer an dem Videospiel »Die Ikarus-Matrix« arbeitete, zusammen mit dem ebenso besessenen Daniel »The Freak« Biterman. Wonach das Spiel schnell zum Welterfolg wurde und es der Menschheit ermöglichte, Lösungen zur Abwendung der drohenden Apokalypse zu erarbeiten. Zumindest theoretisch.

      »Na ja«, musste Stephen an dieser Stelle gedanklich einräumen.

      »Das Theater mit Geschäftsmann und Anzug hätte echt nicht sein müssen. Da war ich wohl wirklich nicht ich selbst, habe ein wenig meine Persönlichkeit verraten. Aber das wird doch hoffentlich nicht der Grund dafür sein, dass ich jetzt dort nach unten in die Hölle …«

      Weiter konnte Stephen diesen Gedanken nicht spinnen, denn soeben wurde er in dieser abstrusen Kinovorstellung erschossen und die Aufzeichnung riss ab. Wieder erhielt er keinen Hinweis darauf, ob die Welt nun kurze Zeit später wie in seiner letzten SpielSimulation untergegangen war oder weiter existieren durfte. Er beschloss, das Tribunal bei passender Gelegenheit danach zu fragen.

      »Also, Stephen? Hast du irgendwo eine Stelle gefunden, an der wir dich mit der Abwendung der Apokalypse beauftragten?« Die donnernde Stimme klang streng, fordernd. Stephen konnte sich lebhaft vorstellen, weshalb nordische Menschen früher an Thor, den Donnergott geglaubt hatten.

      »Nein, nicht so direkt. Eher indirekt. Ich sollte doch die Mutter des Messias retten und diesen dann aufziehen und beschützen, nicht wahr? Nachdem der Messias wiederum für die Sache mit dem Weltuntergang zuständig war, verstand es sich doch selbst, dass ich mich da berufen fühlte, Jessica zum Umdenken zu bewegen!« Stephen war sich der Richtigkeit seiner Denkweise noch immer gewiss. Die Welt hatte ihn gelehrt, stets gegen alles was negativ, böse oder zerstörerisch anmutete, erbittert anzukämpfen. Woran wohlgemerkt die Religion nicht ganz unschuldig war.

      »Richtig erkannt, Stephen McLaman. Du hattest den Auftrag also tatsächlich verstanden. Dein großer Fehler war, aus einer klaren Anweisung Dinge abzuleiten und zu interpretieren, die weit außerhalb deiner Befugnisse lagen. Selbst als du merktest, dass Jessica unbeirrt ihrer Bestimmung folgte – sie hat dich sogar mehrfach gewarnt – konntest du dieses irrige Verhalten nicht aufgeben und hast nebenbei noch Menschen aller Nationen in dieses sinnlose Streben mit hinein gezogen. Eigentlich müssten wir dich jetzt hinunter zu deinem Vater schicken, denn man kann dir durchaus Vorsatz unterstellen; du hast bewusst zuwidergehandelt und »Gott« spielen wollen. Nur aus einem einzigen Grund sind wir bereit, dir eine weitere Chance zuteilwerden zu lassen: der Messias hat persönlich um die Verschonung deiner Seele gebeten. Hat angeregt, dich noch einmal hinunter auf die Erde zu entsenden, denn du seist kein schlechter Mensch; dem konnten wir zustimmen. Aber sei gewarnt, Stephen McLaman: dies ist unwiderruflich der letzte Versuch, der dir gewährt wird. Um mit den einstigen Worten des Messias zu sprechen: du hast eine Entscheidung zu treffen, wäge sie im Interesse deiner Seele weise ab! Dieses Mal geben wir dir ausdrücklich keinen Auftrag mit auf den Weg; somit gibt es auch nicht den geringsten Grund für dich, wieder in blinden Aktionismus zu verfallen. Viel Glück!« Noch ehe Stephen das Gehörte verarbeiten oder akzeptieren konnte, verschwammen die Konturen der 12-teiligen Einheit zu einer einzigen, die jetzt die Umrisse von Jessicas schönem Gesicht zeigte. Dieses nickte ihm aufmunternd zu, verschwamm bis zur Unkenntlichkeit und löste sich dann in Nichts auf.

      Als Stephen langsam das Bewusstsein verlor, wurde ihm schmerz-

      haft klar, dass er erneut keine abschließende Auskunft erhalten würde, ob die Welt nun untergegangen war oder nicht. Oder darüber, weshalb man ihn und seinen Vater erschossen hatte. Hilflos dämmerte er hinüber in sein neues Leben.

      * * *

      

       Kapitel 2

      Kleine Ursache – große Wirkung

      »Stephen, ist dir nicht gut? Soll ich dir ein Glas Wasser bringen? Oder Kreislauftropfen vielleicht?«

      Als Steve zu sich kam, tätschelte jemand vorsichtig seine Wange. Vorsichtig öffnete er die Augen, ihm war tatsächlich schwindelig, die Welt drehte sich im Kreise. Er lag rücklings auf einer Couch, die ihm äußerst bekannt vorkam. Seine Mutter Kirstie stand mit besorgtem Blick über ihn gebeugt und Steve fiel auf Anhieb auf, dass sie sehr blass wirkte und ganz in Schwarz gekleidet war, was untypisch und unvorteilhaft an Mama aussah.

      Da die rothaarige Kirstie stets vergeblich versucht hatte, ihren sehr hellen Haut-Ton in der Sonne etwas dunkler zu bekommen und hieran jeden Sommer in schönster Regelmäßigkeit kläglich gescheitert war, machte sie die dunkelste aller Farben einfach noch blasser, als sie eigentlich sowieso schon war. Das einzig Dunkle in ihrem Gesicht bildeten nach ihren erfolglosen Versuchen alljährlich die Sommersprossen, deren Population sich schon beim ersten Sonnenbad zu vervielfachen pflegte; oft hatte Stephen sich als Kind hierüber köstlich amüsiert.

      »Es geht schon wieder, glaube ich. Lass mich bitte einfach noch einen Moment hier liegen und ausruhen, dann komme ich sofort zu dir«, sagte Stephen mit dünner Stimme. Seine Mutter entfernte sich mit einem traurigen Nicken und ging langsam in leicht gebeugter Haltung auf die große Glastür zu, welche aus dem riesigen Wohnzimmer hinausführte. Sie schien es normal zu finden, dass ihr Sohn gerade unpässlich war. Warum eigentlich? Stephen registrierte zu seinem Erstaunen, dass er sich in der geräumigen Villa seiner Eltern in Hamburg-Blankenese befand. Er musste sich erst in der Situation zurecht finden und nachdenken, konnte gerade jetzt absolut niemanden um sich herum gebrauchen. Deshalb erhob er sich vorsichtig und suchte das Badezimmer im ersten Stock auf, auch um sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Achtete sorgfältig darauf, im Flur und auf der breiten Treppe niemandem zu begegnen, denn er hörte die gedämpften Geräusche vieler Stimmen durch die geschlossene Terrassentür. Was war die Ursache? Eine Party, ein Geschäftsessen seines Vaters? Er erreichte das Badezimmer, sperrte erleichtert die Tür hinter sich ab. Himmel noch mal, bei welcher Gelegenheit hatte ihn eigentlich die peinliche Kreislaufschwäche ereilt? War der vorherige Aufenthalt im Himmel nun geträumt oder nicht? So viele offene Fragen … Stephen sah an sich herunter. Trug er nicht gerade seine Lieblings-Levi’s-Jeans, die er wegen Materialermüdung einst so ungern ausrangiert hatte, nachdem sich die Löcher endgültig nicht mehr hatten stopfen lassen? Die schaute heute noch ganz neu aus …

      Ach, Du lieber Himmel! Klar, Kirstie hatte vor einigen Minuten viel zu jung gewirkt und er selbst … herrjeh, er konnte höchstens 25 Jahre alt sein! Also musste er seinen schlimmsten Verdacht bestätigt sehen – man verpasste ihm ungefragt ein weiteres Leben. Das Dritte in Folge.

      Kraftlos ließ sich Stephen McLaman auf den Rand der riesigen, runden Badewanne fallen. Nicht schon wieder, nicht noch einmal! Konnte er nicht einfach wieder tot umfallen, gleich jetzt und hier?