Название | 24/7 |
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Автор произведения | Jonathan Crary |
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Серия | |
Издательство | |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783803141651 |
Der 24-Stunden-Takt unterläuft beständig die Abgrenzung zwischen Tag und Nacht, Dunkelheit und Licht, Ruhe und Tätigkeit. Er schafft eine Zone der Unempfindlichkeit, eine Sphäre der Amnesie, die jede Möglichkeit von Erfahrung zunichte macht. Mit Maurice Blanchot gesprochen, ist er die Katastrophe selbst und ihr Danach, der leere Himmel, in dem kein Stern, kein Zeichen mehr sichtbar ist, in dem jede Orientierung verlorengeht.10 Er gleicht, konkreter gesagt, einem Ausnahmezustand, als würde mitten in der Nacht aufgrund außergewöhnlicher Umstände plötzlich eine Batterie von Scheinwerfern aufleuchten, die nicht mehr ausgeschaltet werden. Der Globus wird als 24-Stunden-Betrieb gedacht, als durchgehend geöffnetes Einkaufszentrum mit einer unendlichen Anzahl von Dingen, Aufgaben, Wahlmöglichkeiten und Ablenkungen. Schlaflosigkeit ist der Zustand eines pausenlosen Produzierens, Konsumierens und Wegwerfens, das die Erschöpfung des Lebens und die Vergeudung der Ressourcen vorantreibt.
Als das verbliebene Haupthemmnis – das letzte der von Marx so genannten »Naturhindernisse« – für die vollständige Durchsetzung des 24/7-Kapitalismus lässt sich der Schlaf nicht beseitigen. Er lässt sich aber zerrütten und aushöhlen, und die Methoden und Triebkräfte dieser Zerrüttung sind voll am Werk, wie meine Eingangsbeispiele zeigen. Die Beeinträchtigung des Schlafs ist untrennbar verbunden mit dem Abbau sozialer Sicherungen in anderen Bereichen. Genauso wie weltweit der allgemeine Zugang zu sauberem Trinkwasser durch Verschmutzung und Privatisierung systematisch zunichte gemacht wurde, mit dem Resultat der Vermarktung von Wasser in Plastikflaschen, ist eine ähnliche künstliche Verknappung auch beim Schlaf leicht zu erkennen. Die Summe aller Beeinträchtigungen ruft jene Insomnie hervor, in der Schlaf letztendlich gekauft werden muss (auch wenn man dabei für einen chemisch modifizierten Zustand bezahlt, der nur annähernd dem richtigen Schlaf entspricht). Nach Statistiken zum steigenden Schlaftablettenkonsum bekamen im Jahr 2010 rund 50 Millionen Amerikaner Präparate wie Ambien oder Lunesta verschrieben, viele weitere Millionen kauften rezeptfreie Schlafmittel. Es wäre aber abwegig zu glauben, dass eine Verbesserung der gegenwärtigen Verhältnisse die Menschen tief schlafen und erholt aufwachen ließe. Denn Schlaflosigkeit dürfte heutzutage auch in einer weniger repressiven Welt kaum zu beseitigen sein. Ihre geschichtliche Bedeutung und ihre besondere Gefühlsstruktur verdankt sie kollektiven Erfahrungen, die ihr äußerlich sind. Sie ist nicht mehr zu trennen von vielen weiteren weltweiten Formen der Enteignung und des sozialen Verfalls. Als aktuelles Phänomen individuellen Verlusts hängt sie zusammen mit einer allgemeinen Weltlosigkeit.
Der Philosoph Emmanuel Levinas ist einer der Denker, die sich mit der Bedeutung von Schlaflosigkeit im Kontext der neueren Geschichte beschäftigt haben.11 Schlaflosigkeit ist, wie er erklärt, eine Form, der extremen Schwierigkeit individueller Verantwortung angesichts der Katastrophen unserer Zeit innezuwerden. Bestandteil der modernisierten Welt, in der wir leben, ist die allgegenwärtige Sichtbarkeit sinnloser Gewalt und des von ihr verursachten menschlichen Leids. Diese Sichtbarkeit, in all ihren gemischten Formen, müsste jede Beschaulichkeit zutiefst verstören und die geruhsame Sorglosigkeit des Schlafs ausschließen. Schlaflosigkeit entspricht der Notwendigkeit von Wachheit, einer Weigerung, über den Schrecken und die Ungerechtigkeit der Welt hinwegzusehen. Sie ist die Unruhe der Anstrengung, nicht teilnahmslos zu sein gegenüber den Qualen des Anderen. Ihre Unruhe zeigt aber auch die frustrierende Unwirksamkeit einer Ethik der Wachsamkeit. Der Akt des Miterlebens und seine stetige Wiederholung können zu einem bloßen Erdulden der Nacht oder des Unheils werden; er ist weder öffentlich noch gänzlich privat. Schlaflosigkeit schillert für Levinas immer zwischen Selbstabsorption und radikaler Entpersonalisierung; sie schließt Teilnahme für den Anderen nicht aus, bietet aber auch keinen Raum für dessen Anwesenheit. In ihr werden wir der praktischen Unmöglichkeit gewahr, menschlich zu leben. Denn Schlaflosigkeit ist nicht zu verwechseln mit ungemilderter Wachheit, ihrer fast unerträglichen Aufmerksamkeit für das Leiden und die Grenzenlosigkeit der Verantwortung, die geboten wäre.
Eine 24/7-Welt mit ihrer Auslöschung von Schatten und Dunkelheit, von wechselnden Zeitlichkeiten, ist eine entzauberte Welt. Sie ist eine mit sich identische Welt, eine Welt mit der denkbar oberflächlichsten Vergangenheit, im Grunde also eine Welt ohne Gespenster. Die Einheitlichkeit der Gegenwart ist aber nur ein Effekt der trügerischen Helligkeit, die sich überall ausbreiten will, die jedes Geheimnis, alles Unerkennbare zu vereinnahmen sucht. Eine 24/7-Welt erzeugt eine Scheinäquivalenz zwischen dem unmittelbar Verfügbaren, dem Zugänglichen oder Verwendbaren und dem Bestehenden. Das Gespenstische ist gleichsam das Eindringen oder Einbrechen von etwas außerhalb der Zeit in die Gegenwart, der Geister dessen, was die Moderne nicht ausgelöscht hat, der Opfer, die nicht zu vergessen sind, der unerfüllten Emanzipation. Die Mechanismen des Rund-um-die-Uhr-Betriebs können viele verstörende Erfahrungen der Wiederkehr ausschalten oder absorbieren, die die Wirklichkeit und Identität der Gegenwart aufbrechen und ihre scheinbare Selbstgenügsamkeit sprengen könnten. Eine der hellsichtigsten Beschäftigungen mit dem Ort des Gespenstischen in einer illuminierten Welt ist Andrej Tarkowskys Film Solaris (1972). Es ist die Geschichte von Wissenschaftlern, die in einem Raumschiff einen geheimnisvollen Planeten umkreisen, um Unstimmigkeiten mit bestehenden wissenschaftlichen Theorien zu erforschen. Für die Bewohner der hell erleuchteten künstlichen Umwelt der Raumstation ist Schlaflosigkeit chronisch. In diesem ruhe- und rückzugsfeindlichen Milieu, in dem man exponiert und externalisiert lebt, kommt es zu einem kognitiven Kontrollverlust. Man wird unter diesen extremen Bedingungen nicht nur von Halluzinationen geplagt, sondern auch von Geistern heimgesucht, im Film »Besucher« genannt. Die sinnliche Verarmung in der Raumstation und der Verlust der Tageszeit lockert den psychischen Gegenwartsbezug, lassen den Traum als Träger der Erinnerung ins Wachleben dringen. Für Tarkowsky ist es diese Nähe des Gespenstischen und der lebendigen Kraft des Erinnerns, die es erlaubt, in einer unmenschlichen Welt menschlich zu bleiben. Schlaflos und exponiert zu sein, wird dadurch erträglich. Solaris, entstanden in den experimentellen Nischen des sowjetischen Kulturbetriebs der frühen siebziger Jahre, zeigt, dass die Anerkennung und Bejahung dieser gespenstischen Wiederkehr, nach wiederholten Verleugnungen und Verdrängungen, ein Weg ist, um Freiheit oder Glück zu erreichen.
Ein Strang der heutigen politischen Theorie begreift Exponiertheit als ein grundlegendes oder transhistorisches Merkmal dessen, was seit jeher ein Individuum ausmacht. Statt autonom oder autark zu sein, lässt sich das Individuum nur im Verhältnis zu dem verstehen, was ihm äußerlich ist, in Bezug auf ein Anderes, das ihm gegenübersteht.12 Nur in dieser Verwundbarkeit kann es sich den Abhängigkeiten öffnen, von denen die Gesellschaft getragen wird. Wir befinden uns aber in einem geschichtlichen Moment, in dem diese nackte Exponiertheit herausfällt aus ihrem Zusammenhang mit Gemeinschaftsformen, die zumindest versucht haben, Schutz oder Fürsorge zu bieten. Besonders bedeutsam ist die Erforschung dieser Probleme im Werk Hannah Arendts. Viele Jahre lang bediente sie sich bei ihrer Beschreibung dessen, was für ein wirklich politisches Leben notwendig ist, der Bilder von Licht und Sichtbarkeit. Das Individuum braucht, um politisch zu wirken, ein Gleichgewicht, ein Hin und Her zwischen der hellen, oft harten Exponiertheit öffentlicher Tätigkeit und der geschützten, abgeschirmten Sphäre des häuslichen oder privaten Lebens, von ihr »die Dunkelheit des Verborgenen und Geborgenen« genannt. Sie spricht auch vom »Zwielicht, das unser intimes Privatleben erhellt«.13 Ohne diesen Raum oder diese Zeit der Privatheit, abseits vom »blendend unerbittlichen Licht, das aus der Öffentlichkeit strahlt«,14 gäbe es keine Möglichkeit, eine besondere Identität zu entwickeln, ein eigenes Ich, das einen substanziellen Beitrag zu den Diskussionen über das Gemeinwohl zu liefern vermag.
Für Hannah Arendt ist die private Sphäre zu unterscheiden vom individuellen Streben nach materiellem Glück, in dem das Ich durch Habgier und Konsum bestimmt ist. In Vita activa beschrieb sie diese beiden Bereiche in einem rhythmischen Gleichgewicht von Erschöpfung und Erholung: einer Erschöpfung, die aus der Arbeit oder Aktivität in der Welt resultiert, und einer Erholung, die sich im Schatten abgeschirmter Häuslichkeit einstellt. Sie war sich bewusst, dass ihr Modell einer Wechselbeziehung von Öffentlichkeit und Privatheit, als zweier Spären, die sich