Lipstick Traces. Greil Marcus

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Название Lipstick Traces
Автор произведения Greil Marcus
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783955756208



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auf einem am Stadtrand von Paris gelegenen Universitätsgelände eine Kettenreaktion von Verweigerungen ausgelöst hatten; als zunächst Studenten, dann Fabrikarbeiter, dann Angestellte, Professoren, Krankenschwestern, Ärzte, Sportler, Busfahrer und Künstler die Arbeit verweigerten, auf die Straßen gingen, Barrikaden bauten und die Polizei bekämpften oder an ihre Arbeit zurückkehrten, ihre Gewerkschaften bekämpften, ihre Arbeitsplätze besetzten und in Brutstätten der Diskussion und Kritik verwandelten, als in Paris ausgefallene Parolen von den Mauern troffen … als zehn Millionen Menschen eine Musterversion der modernen Gesellschaft lahmlegten. »In der Verwirrung und dem Tumult der Mai-Revolte«, schrieb Bernard E. Brown in Protest in Paris, seinem einzigartigen wissenschaftlichen Bericht über den Mai 68, »hielt man die Parolen und Rufe der Studenten für den Ausdruck von Massenspontaneität und individuellem Einfallsreichtum. Erst später stellte sich heraus, dass es sich bei diesen Parolen …«

      REVOLUTION HÖRT IN DEM AUGENBLICK AUF ZU EXISTIEREN, WO ES NOTWENDIG WIRD, SICH FÜR SIE OPFERN ZU LASSEN ES IST VERBOTEN ZU VERBIETEN WEDER GÖTTER NOCH HERREN NIEDER MIT DEM ABSTRAKTEN, LANG LEBE DAS FLÜCHTIGE DURCH DIE KUNST STARB GOTT NIEDER MIT EINER WELT, WO DIE GARANTIE, DASS WIR NICHT HUNGERS STERBEN, MIT DER GARANTIE ERKAUFT WURDE, DASS WIR AN LANGEWEILE STERBEN CLUB MED, EIN BILLIGER URLAUB IM ELEND ANDERER LEUTE WECHSELT NICHT DIE ARBEITGEBER, WECHSELT DIE TÄTIGKEIT DES LEBENS ARBEITET NIE DER ZUFALL MUSS SYSTEMATISCH ERFORSCHT WERDEN LAUF, GENOSSE, DIE ALTE WELT IST DIR AUF DEN FERSEN SEI GRAUSAM JE MEHR MAN KONSUMIERT, DESTO WENIGER LEBT MAN LEBE OHNE TOTE ZEIT, GENIESSE UNGEHINDERTE LEIDENSCHAFT WER ÜBER REVOLUTION UND KLASSENKAMPF REDET, OHNE SICH AUSDRÜCKLICH AUF DAS TÄGLICHE LEBEN ZU BEZIEHEN, OHNE ZU BEGREIFEN, WAS AN DER LIEBE SUBVERSIV UND WAS AN DER ABLEHNUNG VON ZWÄNGEN POSITIV IST, HAT LEICHEN IM MUND UNTER DEM PFLASTER LIEGT DER STRAND!

      »…um Fragmente einer einheitlichen und verführerischen Ideologie handelte, die praktisch alle in situationistischen Traktaten und Veröffentlichungen erschienen waren … Vor allem durch ihr Zutun entstand in der Mai-Revolte ein ungeheures Protestreservoir gegen die moderne Welt und all ihre Werke, das Leidenschaft, Rätselhaftes und Urzeitliches vereinte.« »Dieser Ausbruch«, sagte Präsident Charles de Gaulle in seiner Rede im Juni, als er die Macht wieder übernahm, »wurde von einigen Gruppen provoziert, die gegen die moderne Gesellschaft revoltieren, gegen die Konsumgesellschaft, gegen die technologische Gesellschaft, ob kommunistisch im Osten oder kapitalistisch im Westen … von Gruppen, die ansonsten nicht wissen, was sie an die Stelle dieser Gesellschaft setzen würden, sondern an der Negation Vergnügen finden«. »Der Beginn einer Epoche«, verkündete 1969 der Leitartikel in der zwölften und letzten Nummer des Blattes internationale situationniste. »Das Todesröcheln des historisch Irrelevanten«, befand Zbigniew Brzezinski.

      1978, als Brzezinski Nationaler Sicherheitsberater des Präsidenten der Vereinigten Staaten und »Der Beginn einer Epoche« ein im englischen Sprachraum längst vergriffenes, schlecht übersetztes Pamphlet war, konnte man erwarten, dass sich die Leser von Slash an den unvorhergesehenen Feiertag des Mai 1968 ungefähr so schwach erinnerten wie vielleicht an »Seven Day Weekend«, Gary »U.S.« Bonds’ kleineren Hit aus dem Jahr 1965. Vom Leser wurde erwartet, dass er sich den blinden Verweis auf das Atelier-populaire-Poster ansah und sich dann darübergeblendet die bestens bekannte Sex Pistols-Grafik vorstellte, Jamie Reids Fotocollage für »God Save the Queen«, auf der Königin Elizabeth II. mit einer Sicherheitsnadel durch die Lippen zu sehen war; aus dem Dunst nicht gelebter Geschichte sollten Assoziationen purzeln wie Münzen aus einem Spielautomaten. »Die revolutionären Hoffnungen der sechziger Jahre, die 1968 ihren Höhepunkt fanden«, schrieb John Berger 1975,

      sind heute blockiert oder abgeschrieben. Eines Tages werden sie wieder hervorbrechen, verändert und mit anderen Ergebnissen von neuem gelebt werden. Das ist alles, was ich glaube, die Unterschiede will ich nicht vorhersagen. Wenn dies geschieht, wird man erkennen, dass das Situationistische Programm (oder Anti-Programm) wahrscheinlich zu den visionärsten und reinsten politischen Formulierungen dieses historischen Jahrzehnts gehört und in ihm auf extreme Art und Weise seine verzweifelte Kraft und privilegierte Schwäche ihren Niederschlag fand.

      Als Manager der Dils hätten Peter Urban solche sentimentalen Abschweifungen nicht interessiert. Es gelte eine Welt zu erobern, sagte er zu McLaren, eine Taktik zu formulieren, eine Ideologie festzulegen, und überhaupt … McLaren schnitt ihm das Wort ab. »Wie kommt es dann, Peter, dass du eine Band mit einem Namen wie eine Gurke vertrittst? Oder wie ein Dildo. Was ist daran kontrovers?«

      Die Sex Pistols hatten die Dils erst ermöglicht; als ich letztere 1979 spielen sah, waren sie ein hilfloser Abklatsch, mehr nicht. Zu der Zeit, als Nancy Spungen erstochen wurde, hatten die Sex Pistols weltweit neue Bands inspiriert, von denen ungezählte Dinge taten, die es vorher im Rock ’n’ Roll nie gegeben hatte. Doch als »Übergrund-Band«, als kommerzielles Potential, als internationale Skandal-Gruppe, gab es die Sex Pistols kaum länger als neun Monate: Sie erlebten die Veröffentlichung ihrer ersten Platte am 4. November 1976 und hörten am 14. Januar 1978 auf, mehr als Verhandlungsmasse bei einem Gerichtsprozess zu sein, als Johnny Rotten im Anschluss nach dem letzten Auftritt bei ihrer einzigen amerikanischen Tournee die Band verließ und behauptete, McLaren habe in seiner Gier nach Ruhm und Geld alles verraten, was die Sex Pistols je bedeutet hätten. Doch was war das? Für den Gitarristen Steve Jones, einen Analphabeten und Kleinkriminellen, und Paul Cook, Aushilfe eines Elektrikers, waren es Mädchen und Spaß. Für den ersten Bassisten Glen Matlock, einen ehemaligen Kunststudenten und Verkäufer im Sex-Shop, war es Popmusik. Für Sid Vicious, den Junkie, der seinen Platz einnahm, war es der Status eines Popstars. Was Johnny Rotten betraf, der erzählte so viel Verschiedenes (unter anderem, nach Auflösung der Gruppe: »Steve kann abhauen und Peter Frampton werden« – was er nicht tat; »Sid kann abhauen und sich umbringen« – was er tat; »Paul kann wieder Elektriker werden« – was er vielleicht noch tun wird) und musste wohl erst noch erklären, was er meinte.

       DIE SEX PISTOLS

      nannten ihren letzten Auftritt den schlechtesten ihrer Laufbahn, aber für die Fünftausend im proppevollen Winterland Ballroom in San Francisco am 14. Januar 1978 war dieser Auftritt der Tag des Jüngsten Gerichts … und zwar nicht etwa, weil viele die Zettel gelesen hätten, die Evangelisten vor dem Gebäude verteilten: »In jedem von uns steckt ein Johnny Rotten, und der muss nicht befreit werden – man muss ihn kreuzigen!»

      Für Johnny Rotten wäre das ein alter Hut gewesen; auf einem seiner Publicity-Fotos sieht man ihn an ein Kreuz genagelt. In London war die von den Sex Pistols und ihren ersten Anhängern geschaffene Subkultur bereits von denjenigen für tot erklärt worden, die sich mit solchen Erklärungen beschäftigen: eine ehemals geheime, durch Schlagzeilen und Tourismus Gemeingut gewordene Gesellschaft. Oder war Punk anfangs tatsächlich eine Art Geheimgesellschaft, die sich nicht der Wahrung eines Geheimnisses, sondern der Suche danach verschrieben hatte, eine Gesellschaft, die auf der blinden Überzeugung beruhte, es gebe ein Geheimnis zu entdecken? Wurde die Story reif für ihre eigenen Fußnoten, als das Geheimnis erst einmal aufgedeckt schien, als Punk zu einer Ideologie des Protestes und der Selbstdarstellung geworden war – als die Leute wussten, was sie zu erwarten hatten, als sie begriffen, was sie bekamen, wenn sie ihr Geld hinblätterten, oder was sie alles tun würden, um es zu verdienen?

      In den USA hatten sich landesweit erste Enklaven gebildet (Nachtclubs, Fanzines, Plattenläden, ein halbes Dutzend Oberschüler hier, ein Künstlertrio dort, ein Mädchen, das sich in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte, um ihre neue Frisur im Spiegel anzustarren), wenn auch vielleicht weniger aufgrund des Reizes, zehn Dollar teure Importexemplare der verbotenen »Anarchy«-Single zu hören, als aufgrund von Zeitungs- und Fernsehberichten über Londoner Jugendliche, die ihre Gesichter mittels Haushaltsgegenständen entstellten. Echte Entdeckungen fanden statt, aus dem Nichts (»Die ursprüngliche Szene«, berichtete ein Mitgründer des Punkmilieus von Los Angeles, »bestand aus Leuten, die Risiken eingingen und auf obskure Informationsfetzen hin handelten«); für einige sollten diese Entdeckungen, eine neue Art zu gehen und eine neue Art zu reden, noch auf Jahre hinaus die Widersprüche des Alltagslebens anschaulicher und das Leben interessanter machen, als es sonst gewesen wäre.

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