Intertextualität und Parodie in Ovids Remedia amoris. Maria Anna Oberlinner

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Название Intertextualität und Parodie in Ovids Remedia amoris
Автор произведения Maria Anna Oberlinner
Жанр Документальная литература
Серия Classica Monacensia
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783823303558



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die einseitige Ausrichtung auf nur eine einzige Person aus seinem Bewusstsein verbannt und die mens auf andere, von der Liebeswunde ablenkende Tätigkeiten ausgerichtet werden (vgl. V. 1063f.).21 Die dabei erkennbare Teilung in zwei Hälften „which put the advice in complementary negative and positive forms“22 zeigt sich auch in V. 1065f.: Es ist zu vermeiden, dass sich der Samenstau nur bei einer Person entlädt; vielmehr wird Promiskuität empfohlen und kein Zurückhalten des semen für ein einziges Zielobjekt.23 Damit die Verwundung sich nicht wie bei einem infizierten Geschwür (ulcus) weiter verschlimmert und so die physische und psychische Gesundheit des Betroffenen gefährdet ist,24 müsse man stets darauf achten, dass man sich mit noui amores ablenkt und – erneut findet sich der Hinweis auf Promiskuität – sexuell mit frei verfügbaren Partnern verkehrt, wobei das Kompositum uulgiuaga auf Prostituierte hindeutet und man selbst uagus, also ebenfalls frei verfügbar, sein solle.25 Die bildhafte Darstellung der sich verschlimmernden Liebeswunde veranschaulicht das Problem, das der Liebeswahn mit sich bringt, und lässt die remedia, v. a. den variierend wiederholten Hinweis auf den promiskuösen Wechsel der Sexualpartner, dadurch besonders dringlich und notwendig erscheinen.

      4.1.2 Die sukzessive Entfernung vom Prätext

      Dass Lukrez’ ‚Remedia amoris en miniature‘1 viel mehr als nur eine Inspirationsquelle für Ovid darstellen, ja sogar Teile der Struktur seiner Remedia mitbestimmen, lässt sich anhand der ‚Heilmittelklammer‘ zeigen, mit welcher sich die oben genannten lukrezischen praecepta um einen Großteil der Vorschriften in der ersten Hälfte von Ovids Werk (bis V. 488) legen (siehe die tabellarische Übersicht in Abbildung 5); wie so oft im intertextuellen Dialog mit seinen Vorgängern übernimmt Ovid also ein Motiv bzw. einen Abschnitt eines anderen Werkes, erweitert ihn in seinem Umfang und schafft durch die Neuakzentuierung humorvoll Distanz zum ‚vorbildhaften‘ Prätext.2

      Wie Lukrez vor ihm fordert Ovid seine Schüler dazu auf, sich Handlungsfeldern zuzuwenden, die von Liebesqualen abzulenken vermögen. Ovid konkretisiert dabei die bei Lukrez nur pauschal formulierte Aufforderung (vgl. Lucr. 4, 1064) und entfaltet verschiedene Bereiche als Beispiele dafür, wie sich der Liebende bei ‚akutem Liebeskummer‘ zu verhalten habe. Neben forensischer, juristischer und landwirtschaftlicher Betätigung sowie der Jagd und der Vermeidung des gefährlichen otium3 werden den Schülern Ortswechsel und lange Reisen angeraten.4 Auch dass der unglücklich Verliebte sexuelle Befriedigung bei mehreren Personen zu suchen habe, führt Ovid an zwei Stellen aus: Einerseits solle er sich durch viel sexuellen Verkehr mit anderen Frauen ermüden, bevor er mit seiner Herrin schlafe (vgl. rem. 403f.), andererseits sei auch das Pflegen mehrerer Verhältnisse empfehlenswert (vgl. rem. 441–488).5

      Im Hinblick auf die inhaltliche Dimension der einzelnen praecepta lassen sich Parallelen zwischen dem philosophischen Lehrgedicht des Lukrez und den Remedia feststellen, zumal beide Werke auch auf ein ähnliches Ziel ausgerichtet sind: So soll dem amor als einem die Ataraxie des Epikureers störenden Liebeswahn bzw. als unerwünschter Liebe ein Ende bereitet werden. Die Wege, auf denen die Schüler zu diesem Ziel gelangen sollen, unterscheiden sich dabei jedoch grundlegend. Während Lukrez Täuschung und Illusion ablehnt, preist Ovid in Fortführung von Tendenzen der Ars amatoria, der „ars fallendi“,6 Verstellung und Selbstbetrug als probates Mittel für die Loslösung von unglücklicher Liebe (vgl. besonders rem. 497–504).

      Abbildung 5:

      Tabellarische Übersicht zum ersten tractatio-Teil der Remedia amoris

      Contes suggestive Frage: „How could Ovid forget that Lucretius had argued against obstructing the cure of love by self-deception?“7 lässt sich klar mit ‚Hat er gar nicht‘ beantworten. Denn meines Erachtens grenzt sich Ovid bewusst von Lukrez ab, indem er die Instruktionen, die ihren Ausgangspunkt durchaus bei seinem Vorgänger nehmen, in die Vorschrift der Selbsttäuschung münden lässt. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings auch, dass die oben genannten Parallelen nur scheinbar mit Lukrez’ Diatribe übereinstimmen, da die Anklänge an De rerum natura 4 innerhalb der ‚Heilmittelklammer‘ der Remedia stets mit Elementen des Täuschens, Einredens und Imaginierens durchsetzt und so von Anfang an gebrochen sind.

      Bereits innerhalb des praeceptum, das zur Ablenkung durch Jagen ermahnt und das unter Lukrez’ alio conuertere mentem (Lucr. 4, 1064) subsumiert werden kann, klingt das Motiv der Selbsttäuschung, des se ipsum decipiendi, an: aut his aut aliis, donec dediscis amare, / ipse tibi furtim decipiendus eris (rem. 211f.).

      Noch deutlicher sichtbar ist die Umkehrung lukrezischer Argumentation in der folgenden Vorschriftengruppe (vgl. rem. 291–356).8 Wenn Ovid Taktiken des Schönredens nicht einmal erwähnt und auch nicht dazu rät, die negativen Eigenschaften des Mädchens zu übergehen, besteht noch kein Bruch mit dem lukrezischen Prätext.9 Doch wenn der Schüler seinem Mädchen herabsetzende, der Realität nicht entsprechende Bezeichnungen geben soll, um es dadurch für sich unattraktiv zu machen, kann man von einer Invertierung der epikureischen Erkenntnislehre in De rerum natura 4 sprechen. Dabei wächst die Distanz zu Lukrez beim linearen Fortschreiten dieser Vorschriften kontinuierlich an: Die rhetorisch, so Stroh (1979), als evidentia10 gestaltete Ermahnung, dass man sich verwerfliche Taten der puella vor Augen halten sollte, ist noch analog zu Lukrez aufgebaut. Zunächst soll sich der Liebende den durch das Mädchen verursachten Schaden vergegenwärtigen (vgl. saepe refer tecum sceleratae facta puellae / et pone ante oculos omnia damna tuos, rem. 299f.), was die negativen Folgen, die Lukrez als Resultat der Liebesleidenschaft anführt, evoziert (vgl. Lucr. 4, 1121–1140); auch materieller Schaden ist genannt, vgl. labitur interea res (Lucr. 4, 1123a). Die folgenden Vorschriften, die eine negative Evaluierung des Mädchens vom Schüler verlangen, stimmen anfangs noch mit der Grundaussage des Lukrez überein, wenn dieser die Euphemisierungspraktiken Verliebter verspottet (vgl. Lucr. 4, 1149–1170) und so Beschönigungstaktiken eine Absage erteilt;11 man könnte dabei auch behaupten, dass Ovid „de[n] (impliziten) Rat des Lucrez“12 zum Zweck der Therapie dadurch verbalisiere. Denn im Gegensatz zu v. a. der Passage in der Ars amatoria (ars 2, 657–662), in der das ‚Schönreden‘ als erlaubte Praxis propagiert wird,13 weist der ovidische Lehrer unter Berufung auf eigene Erfahrung darauf hin, dass die Fokussierung auf Mängel der puella zielführend sei: profuit assidue uitiis insistere amicae, / idque mihi factum saepe salubre fuit (V. 315f.).14 Ovids Schüler soll aber darüber hinaus gute Eigenschaften des Mädchens verkennen (vgl. V. 317–321)‚ diese ‚schlecht machen‘ (qua potes, in peius dotes deflecte puellae / iudiciumque breui limite falle tuum, V. 325f.), er soll Makel übertrieben hervorheben und die puella zu Handlungen animieren, die sie lächerlich wirken lassen: quin etiam, quacumque caret tua femina dote, / hanc moueat, blandis usque precare sonis (V. 331f.). Diese praecepta stehen nun dem epikureischen Anspruch, die eigene Wahrnehmung nicht durch Illusion zu trüben, diametral entgegen.15

      Wie in einer Klimax, deren Ziel die sukzessive Entfernung vom lukrezischen Intertext und letztlich dessen Inversion ist, vergrößert sich bei linear fortschreitender Lektüre die immer klarer sichtbare Distanz zu De rerum natura mit ihrer Forderung nach Freiheit von Illusionen. Denn nachdem sich mit dem Motivkomplex ‚mehrere Geliebte und casual sex‘ die lukrezische Klammer um die Heilmittel legt,16 endet mit Ausnahme lexikalischer Parallelen die Vergleichbarkeit der beiden liebestherapeutischen Schriften: Für die Entfaltung der ‚ars simulandi‘ kann der angestrebte Rationalismus epikureischer Wahrnehmungs- und Verhaltensdogmatik17 in keiner Weise mehr Vorbild sein:18

et sanum simula nec, si quid forte dolebis,
sentiat, et ride, cum tibi flendus eris.
[…]
quod non es,