Название | Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne |
---|---|
Автор произведения | Thomas Mergel |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846358290 |
„Weltliche“ politische Herrschaft war im Früh- und Hochmittelalter nur in enger Verbindung mit kirchlicher Herrschaft vorstellbar, und in dieser Hinsicht ruhte die frühmittelalterliche Staatlichkeit (wenn man sie denn so nennen will) auch auf der spätrömischen Grundlage auf. Ämter erwuchsen hauptsächlich aus religiöser oder aus militärischer Kompetenz. Bischöfe bekleideten meist auch hohe Reichsämter, Klöster übten Gerichtsbarkeit aus oder hatten das Recht, Münzen zu prägen und Zölle zu nehmen. Politische Herrschaft wurde, so die Vorstellung, im göttlichen Auftrag ausgeübt, denn das christliche Mittelalter lebte weiterhin in der Erwartung eines nahen Endes der Zeiten, die schon die römische Christlichkeit geprägt hatte.
Im späten 11. Jahrhundert änderte sich das: Der Investiturstreit zwischen Kaiser und Papst gilt als Wegmarke, dass diese enge Verwiesenheit aufeinander aufbrach und Konflikte schuf. Wer ist dem anderen vorgesetzt? Dürfen weltliche Fürsten geistliche Würdenträger einsetzen? Der Kaiser sagte: Ja; der Papst argumentierte umgekehrt, dass im Gegenteil er als Nachfolger des Apostelfürsten Petrus berufen dazu sei, die kirchlichen Fürsten einzusetzen. Nach jahrzehntelanger, teils kriegerischer Auseinandersetzung konnte der Papst den Anspruch des Kaisers abwehren; aber die langfristige Folge war eine Entzweiung von kirchlicher und politischer Herrschaft. Konnte die politische Herrschaft bisher nur als Ausdruck der Heilsgeschichte gesehen werden, so gewann sie nun eigene Legitimität (etwa als Friedenswahrerin); für die kirchliche Herrschaft wurde immer schwerer begründbar, dass sie auch Teil der politischen Herrschaft sein müsse. Das sollte freilich noch Jahrhunderte dauern.
Für die größeren Herrschaftsbildungen (das Reich Karls des Großen erstreckte sich von Polen bis Spanien und von Dänemark bis Rom!) bedurften die Könige der Statthalter: Herzöge und Grafen, die in königlichem Auftrag regieren sollten. Diese gingen aber sogleich daran, eigene Herrschaften aufzubauen. Versuche Ottos des Großen, so etwas wie eine Reichsbeamtenschaft heranzubilden, scheiterten, weil die Ressourcen dafür fehlten. Die Ressourcen: Das war im Wesentlichen das Land. So kam es zu einer typisch mittelalterlichen Form von Herrschaft: dem Lehenswesen (Lehen = Leihe). Ausgehend von der Fiktion, dass alles Land dem König gehörte, erhielt der Gefolgsmann (Vasall) im Austausch für seine Folgebereitschaft Land (später auch Ämter, die Geld einbrachten, wie beim Zollwesen), das er ausbeuten (lassen) oder auch an Untervasallen für deren Folgebereitschaft weitergeben konnte. Formal waren diese Länder und Ländereien nur verliehen. Faktisch tendierte das Lehenswesen aber dazu, dass die Lehensnehmer selbst politische Herrschaft aufbauten und dynastisch sicherten.
Das Lehenswesen als Moment politischer Herrschaft ist in den letzten Jahrzehnten Gegenstand lebhafter Diskussionen gewesen.15 Dabei hat sich ergeben, dass seine Bedeutung keineswegs für das ganze Mittelalter gelten konnte. Vielmehr bildete es sich erst im Hohen Mittelalter langsam heraus; seine ganze Bedeutung erhielt es erst im Spätmittelalter. Die Bindungen des Vasallen waren bis dahin (und darüber hinaus) sehr viel mehr personaler Art (Gefolgschaft, Freundschaft) als nur gewissermaßen politische Geschäftsbeziehungen. Als solche stabilisierte es die politischen und sozialen Ordnungen. In Hinsicht auf die Staatlichkeit ist diese Personalität wichtig zu bemerken; sie war bis weit in die Neuzeit hinein ein Grundstein politischer Herrschaft. Der Mediävist Theodor Mayer hat demzufolge – gleichzeitig und in Auseinandersetzung mit Otto Brunner – diese Form einen „Personenverbandsstaat“ genannt und diesen dem modernen „institutionalisierten Flächenstaat“ gegenübergestellt.16
Für das Heilige Römische Reich galt, dass die Lehen dauerhaft vergeben wurden.17 Vor allem die großen Lehensnehmer, allen voran die Herzöge und Grafen von Bayern, Sachsen, Böhmen oder Österreich, entwickelten hier ihre eigene Herrschaft, aus den Lehen wurden mit der Zeit selbständige politische Einheiten: Es entstanden territorialstaatliche Gebilde. Anders war das in Frankreich, wo der (spätere) König von der Île de France aus seit dem 12. Jahrhundert in endlosen Kriegen seine Lehensnehmer, die gleichzeitig Konkurrenten waren, unterwarf. In England führte der Einfall der Normannen unter Wilhelm dem Eroberer (der selbst ein Vasall des französischen Königs war!) im 11. Jahrhundert zu einer Ausbildung von Machtstrukturen und -ressourcen, die vor allem die unterworfene Bevölkerung niederhalten sollten. Das zentrale Herrschaftssymbol, der von Wilhelm dem Eroberer erbaute Tower in London, war zunächst nichts anderes als eine Burg inmitten von Feinden. In England ist eine frühere und intensivere Ausbildung staatlicher Strukturen festzustellen, die nicht nur, aber auch auf diese Eroberung zurückzuführen ist. Hier bildete sich eine modifizierte Lehensverfassung aus, die anders als auf dem Kontinent die (großen) Lehen nicht erblich ausgab, sondern immer wieder neu verteilte, was ein treffliches Instrument der Machtkonzentration darstellte. Bereits vor dem Einfall der Normannen hatte der Aufbau einer Zentralverwaltung begonnen, und schon Anfang des 12. Jahrhunderts gab es ein Schatzamt, das eine Übersicht über Einnahmen und Ausgaben führte. Der König beanspruchte ein Burgenbaumonopol, und noch aus angelsächsischer Zeit gab es Volksgerichte, die nach Grafschaften organisiert waren; seit der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert gab es einen ständigen Gerichtshof: Recht war ein Gut, das in England sehr früh zu einem staatlichen Zentralbereich wurde. Die Magna Charta von 1215 hat zwar die Macht der hohen Adligen gegenüber dem König gestärkt. Gleichzeitig hat sie zur Ausbildung von Verfahren geführt, die Rechtssicherheit und politische Mitsprache (in den Parlamenten) ermöglichten.
England ging mithin voran und ist in gewisser Weise eine Ausnahme. Insgesamt gilt (mit charakteristischen Abweichungen): Zentrale akzeptierte Herrschaft zu etablieren, gelang bis ins Spätmittelalter den meisten Herrschern nur sehr unvollständig und instabil. Nur selten schafften sie es, eine kontinuierliche Militärmacht aufzubauen, die zentrale Herrschaft blieb darin von ihren Vasallen, den hohen Adligen abhängig. Ein Gewaltmonopol des Staates nach innen ließ sich nicht durchsetzen, vielmehr beharrten die Freien auf ihrem Recht, Konflikte selbst gewaltsam auszutragen: dem Fehderecht.18 Eine einheitliche Administration oder eine bürokratische Elite entwickelten sich nicht auf Dauer. Auch eine integrierte Rechtslandschaft entstand nicht; vielmehr überlagerten sich die Rechtstitel und waren mit den jeweiligen Territorien nicht identisch. So gab es beispielsweise in mittelalterlichen Städten nicht nur das Gebiet, über das die Stadt als Korporation verfügte, sondern auch Areale, die dem Recht anderer Herrschaftsträger unterstanden, sei es dem Kaiser oder Adligen, sei es die sogenannte „Kirchenfreiheit“: Die Distrikte um die Kirchen und Friedhöfe unterstanden kirchlichem Recht, hier galt das Recht der Stadt nicht. Auch die Universität war im Mittelalter ein Ort eigenen Rechts. Und mit diesem territorialen Recht ging immer auch das Recht über Personen oder Personengruppen einher.
1.4 Anfänge des modernen Staats im Spätmittelalter
In ganz Europa bildeten sich im Späten Mittelalter Dynamiken von Staatlichkeit heraus, immer in Konkurrenz und in gegenseitiger Beobachtung, durchaus nicht in gleicher Richtung.19 Für unsere Zwecke liegt es näher, die Gemeinsamkeiten zu betonen. England war ein Pionier, ebenso auch Sizilien, und in mancher Hinsicht auch der Kirchenstaat. Seit dem Späten Mittelalter wurden viele dieser Institutionen auch in anderen Ländern entwickelt. Die wichtigsten Entwicklungen seien hier nur summarisch genannt.
(1.) Die Verwaltung des Landes geschah herkömmlicherweise am Fürstenhof, wo Familienmitglieder und zu Rate gezogene Vasallen, Freunde und Kleriker die Aufgaben erledigten. Mit der Zeit reichte das aber nicht mehr aus. Um der Verwaltung der Länder Herr zu werden, aber auch, um juristische und finanzielle Verhältnisse auf Dauer berechenbar zu machen, differenzierten sich zentrale Behörden aus, die unabhängig vom Fürstenhof die Verwaltung übernahmen. Damit formte sich die Schriftlichkeit als maßgebliches Regierungsmedium aus; davor hatte dafür der Klerus zur Verfügung gestanden, nun wurde immer mehr eigenes Personal dafür herangezogen. Um 1380 hatte die königliche Kanzlei in London bereits über hundert Mitarbeiter! Diese mussten für die Aufgaben