Название | Konfrontation mit einer Selbstvernichtung |
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Автор произведения | Stefan G Rohr |
Жанр | Сделай Сам |
Серия | |
Издательство | Сделай Сам |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783750228818 |
Wir müssen begreifen – nicht belehrt werden.
Wir müssen akzeptieren – nicht gezwungen werden.
Wir müssen verstehen – nicht missioniert werden.
*
Niemand wird jemals wieder diesen einen Augenblick vergessen können. Den Moment der Wahrnehmung, dass der geliebte Mensch Suizid begangen hat und nicht mehr lebt. Ob durch behutsame Mitteilung eines mitfühlenden Verwandten oder durch das eigene und damit zutiefst schockierende Auffinden des Leichnams. Wir wurden mit etwas konfrontiert, was einer Totalvernichtung gleichkommt. Das Schicksal zeigt einen Rest an Milde, wem es die Bilder der/des Toten erspart. Denn die Härte dieser erkennen wir erst Zug um Zug, mit jeder Nacht mehr, mit jedem Tag intensiver. Und sie lassen uns nicht mehr los, überdecken alle schönen Erinnerungen, geraten zur Unerträglichkeit und vergrößern unseren Schmerz mit jedem Erscheinen vor unserem inneren Auge, so dass wir fragen:
„Hast Du das tatsächlich gewollt?!“
„Hast Du mir diesen Anblick wirklich zugemutet?!“
„War es Dir so egal, was Du damit anrichtest, oder hast Du einfach nicht mehr darüber nachdenken können?!“
Der geliebte Mensch hat sich für seine Selbstvernichtung entschieden. Uns hat er mit dieser Entscheidung aus unseren Lebensbahnen entgleisen lassen. Wir können es nicht begreifen, nicht nachvollziehen. Wir ringen nach Luft, wollen es nicht wahr haben, hoffen auf einen Alptraum, auf das schnelle Erwachen, auf das Ende dieser schrecklichen Schmerzen. Denn es bleibt für uns noch lange Zeit etwas entsetzlich Unfassbares.
Jeder einzelne Tod eines geliebten Menschen hat sein individuelles Leidenskaleidoskop. Und es darf auch nie der Versuch unternommen werden, die Schmerzen und die Trauer in einem Vergleich zu skalieren. Es gibt aus der persönlichen Betrachtung kein „weniger schlimm“ oder „am schlimmsten“ – für jeden Menschen bleibt der Verlust durch Tod eine nicht relativierbare Schmerzgröße. Und als Hinterbliebene/r stürzen wir in unsere ureigene Bodenlosigkeit, in unermessliche Tiefen, vielleicht sogar in eine schier endlos erscheinende Finsternis.
Das erwartete, das angekündigte, das prognostizierte Ableben eine geliebten Menschen mag eine gewisse Gutmütigkeit der Fügung in sich bergen. Der Schicksalsschlag – nicht die einsetzende Trauer und das Leid – warf seinen Schatten bereits voraus. Ein Suizid – selbst bei zuvor erkannter Gefährdungslage (siehe schwere Depressionen; Teil 4) – erschüttert dann aber doch vor allem durch die Überrumpelung, einhergehend mit einer (zumeist) völligen oder weitgehenden Unkenntnis um Motive und/oder die Unfähigkeit eines Nachvollzuges der (psychisch intakten) Hinterbliebenen.
Die Unerbittlichkeit, die Grausamkeit, die Brutalität eines Suizids sind für die hinterbliebenen „Opfer“ zudem deswegen so massiv, weil wir mit einer freiwillig, selbst entschiedenen und selbst herbeigeführten Eigenvernichtung konfrontiert werden, deren Sinnhaftigkeit und Motivlage (wenn denn überhaupt verlässlich erkennbar) sich uns weder erschließt noch auf eine annehmbare Begründung der Notwendigkeit stößt. Uns versagt sich eine Motivkopplung. Unsere Fassungslosigkeit ist so dermaßen groß, dass uns ad hoc alle Sinne schwinden, und wenn wir es besonders schlecht treffen, tragen wir selbst einen irreparablen Schaden davon.
Doch neben dem unsagbaren Schmerz, unserem dauerhaften Brennen in unserer Seele, wollen wir – ja wir müssen es sogar – begreifen. Dabei geraten wir wohlmöglich auf viele Abwege und verirren uns in Analysen und der Suche nach etwas Greifbarem. Nur wenn wir begreifen können, können wir auch verarbeiten. Das sagt uns unser Instinkt – zumindest, wenn wir in uns hineinhören. Wir können das Unfassbare damit nicht ungeschehen machen. Wir können es nur zu einem Bild zusammenfügen, es von dem undurchsichtigen Schleier befreien, um uns selbst zu positionieren.
Verzweiflung und die Gefahr einer Traumatisierung
Verzweiflung befällt zwangsläufig die,
deren Seele aus dem
Gleichgewicht gekommen ist.
Marc Aurel (121 – 180 n. Chr.),
römischer Kaiser und Philosoph
Wie eine giftige, dornige Schlingpflanze hat uns die Verzweiflung umfasst. Sie würgt uns, raubt uns die Luft, benebelt uns mit ihren toxischen Dämpfen, dringt durch unsere Haut und nimmt noch den letzten Rest unseres Inneren ein. Sie ist vollkommen, total, unerbittlich und drückt uns mit tonnenschwerer Last zu Boden. Nichts was wir zuvor jemals verspürt haben, ist mit ihr vergleichbar. Sie ist ein mächtiger Dämon, der unsere Seele bei lebendigem Leibe zu fressen begonnen hat. Grenzenlose Verzweiflung erfüllt uns, eine Kraft, die uns aus unserer Umlaufbahn geworfen hat. Und jetzt jagen wir in Lichtgeschwindigkeit inmitten eines Meteoritenhagels durch eine fremde Galaxie.
Obwohl doch der Tod mit unserem ersten Atemzug auf dieser Welt vollkommen unausweichlich verbunden ist, ja mehr noch, von allem im Leben das tatsächlich einzig Garantierte ist, – das eigene Ende, die eigenen Vergänglichkeit – so wird von uns Lebenden und denkenden Individuen nicht mehr verdrängt, nichts wird weniger wahrgenommen und erwartet als der eigene Tod. Begleitet uns dieser auch auf noch so vielen Wegen, erscheint er uns im Laufe unserer Existenz in so mannigfaltiger und manchmal tragisch deutlichen Weise, bleiben wir für uns selbst, eingeschlossen unsere nächsten Menschen, mit stoischer Ignoranz ausgestattet. So, als ob wir selbst und unsere Liebsten von alledem verschont sein würden, das Unglück, der Schmerz, die Schicksalsschläge ausschließlich anderen überlassen bleiben. Trotz der Tatsache, dass je älter wir werden, die einzelnen Vorfälle im Familien- und Freundeskreis immer näher rücken, uns in unzähligen Varianten die Realität vor Augen führen, in Gnade oder mit dramatischer Wucht, so erschüttert es den Menschen immer wieder aufs Neue zutiefst, sich mit dem Ableben eines Nahestehenden abfinden zu müssen.
Bemerkenswert dabei ist der Umstand, dass wir Lebenden schon frühzeitig gelernt haben, den Tod in mehr oder minder schwer hinzunehmende Kategorien einzuteilen. Stirbt ein alter Mensch, nach einem langen und erfüllten Leben, trifft diesen des Nachts beim Schlaf der Schlag, oder schläft er einfach ruhig und beschwerdefrei ein, so empfinden wir landläufig den Tod sogar in tiefer Dankbarkeit als schön und fast begehrenswert. Stirb ein geliebter Mensch nach langem und schweren Leiden, so hält uns die Tragik sicher schon länger fest im Griff, doch empfinden wir den Tod eher als Erlöser von Qualen und Beschützer vor einem vielleicht nicht mehr menschengerechtem Siechtum. Auch hier überwiegt Dankbarkeit und die Einsicht in eine gnädige Natur und Schicksalsfügung. Haben wir allerdings ein Unfallopfer zu beklagen, einen Nahestehenden, der unversehens und vielleicht inmitten seines Lebens aus diesem gerissen wurde, so ist die Qual über den Verlust, das Erleben der Tragödie – verbunden mit der Klageführung in Bezug auf ein „ungerechtes Schicksal“ - schon eine ganz andere Schmerzdimension. Der Verlust entpuppt sich in einer Dimension, deren Anfang und Ende von niemandem – mag man sich auch noch so bemühen – ohne eigene Erfahrung antizipiert werden kann.
Doch der Verlust durch Suizid geht mit nichts von alledem einher. Es fehlt mir an mathematischem Verständnis und ethischer Hemmungslosigkeit eine Relation in Form einer Metapher zu beschreiben, die auszudrücken vermag, in wie weit sich der Schmerz und die Verzweiflung doch dimensional von allen anderen Todesereignissen in Kraft und Zermürbung absetzt. Ich habe es selbst