Der unheimliche "Erste Diener des Staates". Walter Brendel

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Название Der unheimliche "Erste Diener des Staates"
Автор произведения Walter Brendel
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783754935156



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was sich transportieren ließ. Den Rest verkauften sie. Wiederum handelte es sich um Millionen. Übrig blieb lediglich das Schloss Monbijou, das König Friedrich „seiner“ schönen Katharina (in Berlin, an der Oranienburger Straße) hatte bauen lassen. Sie schenkte es ihm zurück, und der blöde Monarch war so beeindruckt von dieser Geste, dass er seiner abziehenden Mätresse eine jährliche Pension in Höhe von 24 000 Taler gewährte. Millionenschwer verließ das Paar das von ihm ausgeplünderte Preußen. Er starb bereits ein Jahr später in Frankfurt/M. Sie zog nach Paris und vergnügte sich dort noch ca. 20 Jahre.

      Das alles geschah vor dem Hintergrund eines ständig gewachsenen Elends im neuen Königreich. Arm waren die Leute im Land schon immer gewesen. Jetzt - unter der Herrschaft des Verschwenders Friedrich - waren sie bettelarm geworden. Und nun suchte auch noch (1709-1711) eine Pestepidemie die östlichen Landesteile heim. Allein Ostpreußen verlor durch diese Seuche mehr als ein Drittel seiner Bevölkerung (etwa 200 000 Menschen).

      Berlin und Umgebung blieben von der Pest verschont. Dort hatte sich, dem Lotterleben am Hofe folgend, ein buntes Leben und Treiben entwickelt. Es gab Stadtküchen, Restaurants und Imbissstuben, Kaffeehäuser und Konditoreien, Zucker- und sogenannte Feinbäcker, schließlich auch Kaufhäuser und etliche Hotels nach französischem Muster. Es gab eine bescheidene Oper, es gab literarische Zirkel, es gab Konzerte. Den König interessierte das alles sehr, und es gefiel ihm großartig. Nur: Er ging nicht hin.

      Der elende, unfähige Regent starb im Februar 1713 in seinem Schloss in Berlin. Er starb ... vor Schreck! Seine verrückt gewordene dritte Frau, Königin Sophie Luise, wurde in einem abgelegenen Flügel des Schlosses unter Verschluss gehalten. Eines Tages entwich sie ihren Pflegern, schlug sich durch bis zu dem in seinem Lehnstuhl eingenickten Gemahl, der plötzlich eine weiße unheimliche Gestalt erblickte, eine grauenhafte Erscheinung mit blutigen Händen, die ihn zu bedrohen schien. Entsetzt schrie er auf, und eine der folgenden Herzattacke setzte seinem Lotterleben ein Ende.

      Und nun, 310 Jahre danach, wird er gefeiert wie ein Held, wie ein großer Preuße, an dem nichts von dem zu entdecken ist, was irgendwann einmal von preußischen Hofhistorikern als „preußische Tugenden“ erfunden wurde. „Toleranz“ könnte man ihm vielleicht zubilligen. Nicht jene, die Preußenschwärmer entzückt, sondern eine „Toleranz“, die dem Betrug, der Geltungssucht, der Bereicherung, der Bestechung, der Verschwendung gezollt wird. Auch bei seinen Nachfolgern wird man die gefeierten Merkmale „preußischer Tugenden“ nicht entdecken können. Sie sind unausrottbarer Bestandteil der Hohenzollern-Legenden, die die Hofhistoriker, Hofdichter und Hofjournalisten im 19. Jahrhundert erfunden und unaufhörlich ausgestreut haben - mit entsetzlichen Wirkungen bis auf den heutigen Tag.

      ***

      Der König sitzt immer noch auf der Terrasse. Starr bleibt die spitze Nase nach vorn gereckt, das große Auge, viel zu groß für das kleine Gesicht, blickt unbewegt geradeaus auf die Stelle in der Terrassenmauer, wo sein schäbiger Körper - wie alle Welt weiß - demnächst bestattet werden soll und wo schon jetzt seine einstigen Lieblinge, die Windhunde, ruhen. Ein Frederic Le Grand hat es nicht nötig, in geweihter Erde begraben zu werden. Man ist nicht umsonst Philosoph... Ah, seine graziösen Windhunde! Wenn sie doch noch in der Sonne ihr Spiel vor ihrem königlichen Herrn trieben! Wenn der Hundefavorit noch neben ihm auf einem seidenbezogenen Stuhl läge! Aber nach dem Tod seines Lieblings, der entzückenden Biche, will der König kein Windspiel mehr in seiner Nähe dulden und überlässt im Potsdamer Hundezwinger die vierzig Windspiele ihren Wärtern.

      „Ja, ja, gute Gesellschaft, die regt an!" entfährt es nach einer Weile dem König leise mit einem kleinen Seufzer. „Passe!"

      Wenn man wenigstens noch Zähne im Mund hätte und mehr Luft in der Lunge, um Flöte spielen zu können! Heute - Dieu le sait - würde es Mich ganz besonders enchantieren. Mir selber in der schönen Sonne ein kleines Flötenkonzert zu geben. Weit ist es nicht her mit Meinem Flötenspiel trotz der vielen Schmeicheleien, die man Mir darüber gesagt hat, aber was schadet das! Mir hat es Spaß gemacht, il m'amusa. Passe! Auch das: passe! Was ist Mir noch geblieben? Ein bisschen Gier auf gutes Essen! Eh bien: ein Zeichen, dass Ich noch nicht ganz abgestorben bin! Und da wollte Mir der Scharlatan von Leibarzt eine schleimige Diät aufschwatzen! Das wäre Mir ein jämmerlicher König, der nicht äße, was ihm konveniert...'

      Bei diesen lukullischen Gedanken verspürt der König eine rumorende Bewegung in seinem Gedärm: ,Ah, das Digestivmittel Meines braven Schöning scheint wieder einmal anzuschlagen. Was hatte sich der doch untertänigst zu verordnen erlaubt? Ein Gemisch von Rhabarber, Glaubersalz, Salpeter und Krebsaugen? Eh bien! Hoffen wir, dass die Krebse bei ihrem Durchmarsch durch Mein elendes corpuscule so diskrete Augen haben wie Meine Kammerhusaren, wenn Ich ihnen auf dem fauteuilcloset das spectacle eines Landesvaters faisant caca vorführe..." Immer deutlicher kündigt sich ein Darmkolikanfall an. Der König ist damit durchaus einverstanden, denn er ist überzeugt, dass die Kolik eine Milderung seiner Gichtschmerzen bewirkt. Diese angenehme Erwartung wird freilich gestört durch die Aussicht, dass zunächst die widerliche Prozedur der Darmentleerung vor sich gehen muss.

      Bald ist es soweit. Unwirsch greift der König nach dem kleinen Silberglöckchen und schellt. Ein Kammerhusar wartet ja immer in Hörweite. Der Lehnstuhl mitsamt dem kleinen König wird von den beiden Kammerdienern eilig in das Schloss zurückgetragen.

      Inzwischen murmelt der König grimmig vor sich hin: „Der Monsieur Selle könnte sich mal wieder sehen lassen! Der Quacksalber weiß vielleicht ein Mittel gegen die mechanten Koliken." Schöning kennt das Mittel, das helfen würde: eine vernünftige Diät! Aber er schweigt natürlich. Außerdem weiß er, dass der König neuerdings erwägt, den berühmten Doktor von Zimmermann, den hannoverschen Leibmedicus, nach Sans Souci kommen zu lassen. Die herzoglich-hannoversche Verwandtschaft hat angeboten, dass sie sich für einige Zeit von ihrem Leibarzt trennen wäll, wenn damit dem großen Friedrich ein Gefalle geschieht ...

      Am nächsten Vormittag lässt sich der König im Lehnstuhl auf die Terrasse hinaustragen. Er ist von der Anstrengung des Vortages noch ermattet, fühlt sich aber doch erleichtert und schmerzfreier. Eine Stunde bleibt ihm noch bis zur Mittagsmahlzeit, die auf die Minute genau eingenommen wird und ihm heute besonders gut schmecken dürfte.

      Wohlig lässt er sich von der Sonne wärmen. Nach einer Weile wirft er sogar die Pelzdecke von seinen Knien auf die Erde. Abgenutzt und schäbig, wie das meiste, was dem König an Gegenständen dient, ist dieser einst kostbare Zobelpelz, ein Geschenk der Zarin Elisabeth. Ein behagliches Überlegenheitsgefühl weckt der alte Pelz in Friedrich, und er sinniert vor sich hin: Ja, ja, deine alte Feindin Elisabeth! Zwei gute Taten hat das liederliche und saufige Weibsstück immerhin vollbracht, den wohltuenden Zobel hat sie Mir, um Mich zu bestechen, geschenkt, und später, anno 1762, im Siebenjährigen Krieg, ist sie genau zur richtigen Zeit gestorben: mon Dieu, das Wasser stand Mir schon bis zum Halse! Wäre damals nicht der Blödian Peter Zar geworden - ob Ich dann heute so schön in der Sonne auf Meiner Terrasse säße? So ein Simpel! Hat, obwohl Russe, Mich glühend bewundert! Na ja, von seinem Großvater Peter dem Großen hatte er verzweifelt wenig an sich!' Während dieser Überlegungen hat ein mokanter Zug um den schmallippigen Mund des alten Mannes gespielt, aber nach einer kleinen Weile wird sein Gesichtsausdruck wieder sanft und melancholisch, während er seine lässigen Gedanken weiter spinnt.

      In solches Sinnen verstrickt, das ihm ein spöttisches Vergnügen zu bereiten scheint, verliert sich der alte Mann immer mehr ins Träumen mit offenen Augen und ist nahe daran, einzunicken.

      Aber dann: „Ah! Die Mittagsmahlzeit! Pas mal!" Und so unternehmungslustig ist der König auf einmal gestimmt, dass er sich partout zu Fuß ins Zimmer begeben will und begibt. Schöning, der Nacht- und Morgendienst gehabt hat, ist dienstfrei. Er richtet es übrigens gern so ein, dass er bei der umfänglichen Mittagsmahlzeit des Königs nicht zugegen ist. Natürlich verbirgt er ganz einwandfrei seinen Kummer, wenn er sehen muss, wie der König falsch und viel zu viel isst, aber er leidet innerlich schwer darunter, was alles an Nahrung in dem kleinen, kranken Körper des Königs Platz findet. Der König gießt siedend heiße Bouillon in sich hinein und hinterher einen großen Esslöffel voll gestoßener Muskatblüten. Der übermäßig scharfe Würzgeruch der Speisen steigt würdig in die Nase und der russische Kaviar, von denen der König eine gehörige