Название | Der Junge aus der Vorstadt III |
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Автор произведения | Mario Worm |
Жанр | Языкознание |
Серия | Der Junge aus der Vorstadt |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783752905434 |
Mit glänzenden Augen steigt Ruth aus, öffnet das Flügeltor, so dass Karl das Fahrzeug auf das Gelände fahren kann. Doch es steht wie immer das gleiche Problem an. Um auf die Parzelle zu gelangen, muss man an Gänickeschen Hühnern vorbei, die sich frei auf dem Areal bewegen. Unser „Superkind“ hat panische Angst vor dem Federvieh, denkt er. Die scheinen die Situation mal wieder richtig erkannt zu haben … zielstrebig jagt das Geflügelgeschwader unter munterem Gegackere den Weg hinunter. Dieser Schlappschwanz! Angst vor Hühnern! Doch heute ist das Glück ausnahmsweise mal auf der Seite des Fünfzehnjährigen. Aus einem nicht nachvollziehbaren Motiv hat die gefiederte Bande auf ihre Treibjagd verzichtet. Vielleicht, weil Karl und die Mutter in der Nähe sind …?
Die Parzelle war bewusst klein gehalten, was durchaus nachvollziehbar war. Je kleiner die Einheiten, umso mehr passten auf Gänickes Anwesen, umso größer dessen Pachteinnahmen! Dicht an dicht drängten sich die Sehnsuchtsorte der Erholungssuchenden, nur abgetrennt durch einen Mini-Zaun, dessen Höhe man spontan überwinden konnte, wenn man nur sein rechtes Bein ein wenig sportlich nach hinten anwinkelte. Der Holzbungalow bestand aus drei Zimmern. Der angrenzende „Pseudogarten“ gestattete im besten Fall das Aufstellen einer Hollywoodschaukel, eines Tisches mit vier Stühlen und eines Holzkohlegrills. Natürlich war auch der Schnitt des Hauses dementsprechend. Gleich rechts vom Eingang war die Wohnküche. Hier konnte man, wenn das spärliche Inventar und die räumliche Enge ausgeblendet waren, auch bei schlechtem Wetter einen Nachmittag verbringen. Über den schmalen Flur gelangte man dann zu den restlichen zwei Zimmern, die als Schlafstuben für die Eltern und den Jungen fungierten. Trotz der offenkundigen Schlichtheit waren alle Parzellen belegt. Grundstücke in absoluter Wassernähe. Das machte Eindruck.
Ulf wirft seine Schulmappe auf das Bett. Jetzt gilt es, sich schnellstens der Obhut der Mutter und des ungeliebten Stiefvaters zu entziehen. Er weiß genau, wie die nächsten Minuten jetzt ablaufen werden. Zuerst werden sie das mitgebrachte Gepäck verstauen, welches dem Umfang eines vierzehntägigen Urlaubs gleicht und von dem die meisten Utensilien ungenutzt wieder mit zurückgenommen werden. Dann steht der „gemütliche Teil“ bevor, der darin besteht, dass sie sich ungeniert vor ihm liebkosen. Nein, das muss er sich nicht geben. „Ich gehe raus spielen.“ „Halt! Du musst doch erst was essen“, schallt die Stimme der Mutter zurück. „Hab keinen Hunger.“ „Lass ihn doch gehen!“, fordert Karl und schickt sich an, seine Lebensgefährtin in die Arme zu nehmen. „Also gut“, gibt Ruth nach. „Bevor es dunkel wird, bist du wieder da! Denk dran, Papa und ich wollen heute Abend tanzen gehen! Und geh mir nicht runter ans Wasser!“ „Ist gut“, antwortet Ulf und verlässt schnellstens die Hütte. Von wegen Papa. Dieser Mann ist nicht mein Vater und wird es auch nicht werden! Und überhaupt, warum sollte ich runter zum Wasser gehen? An den schon teilweise ziemlich morschen Holzstegen, die etwas in den Kanal hineinragten, gibt es ja noch nicht einmal eine richtige Badestelle. Da standen nur die Großen und brachten ihre Boote zu Wasser oder fuchtelten bedeutsam mit ihren Angelruten. Ulf hasst Angeln. Zum ersten ekelt er sich, einen Regenwurm anzufassen, geschweige denn selbigen auf den Haken zu spießen. Zum zweiten tun ihm die kleinen Fische leid, die man im Todeskampf zappelnd und verzweifelt nach Luft schnappend aus dem Wasser zieht. Nein, das war so ganz und gar nicht sein Ding, weshalb er sich auch immer wieder das Gespött des Stiefvaters zuzieht. Jetzt kann vielmehr die gewohnte „Wochenendlangeweile“ beginnen. Eine verbliebene Option ist der Wald. Ulf liebt es, tief hinein zu laufen. An diesen Stellen, an denen kaum ein Mensch anzutreffen ist, kann er seinen Fantasien freien Lauf lassen. Hier ist er Tarzan, der sich von Kieferast zu Kieferast schwingt, oder ein Sheriff aus dem wilden Westen, der einem Schurken nachstellt. Egal, in welche Rolle er schlüpft, er ist der Gute und der Starke, der Beherrscher der Welt! Nur, um in den Wald zu gelangen, muss der „Supermann“ an den Hühnern vorbei! Vorsichtig nähert er sich dem Federvieh, als ihn plötzlich jemand von hinten anstupst. „Hey Ulfi! Spielst du mit mir?“ Ruckartig, noch immer auf einen eventuellen Hühnerangriff konzentriert, dreht er sich um und blickt in das stupsnasige Gesicht der kleinen Susanna Mistroi. Der sechsjährige blonde Wuschelkopf mit seinen schalkhaft wirkenden blauen Augen sieht ihn fragend an: „Wir können ja raus zum Spielplatz gehen und zusammen mit Lotta Vater-Mutter-Kind spielen?“ Stolz hält sie ihm ihre neue Puppe entgegen. Er zögert mit der Antwort. Susanna ist wenigstens etwas Medizin gegen die hiesige Trostlosigkeit, aber die Hühner … Doch das aufgeweckte kleine Mädchen kennt kein Pardon. Ohne eine Antwort abzuwarten, ergreift sie seine linke Hand und zieht ihn förmlich durch das Hühnerminenfeld: „Nun komm schon!“
Der spartanische Waldspielplatz, der aus einer Schaukel, die zwischen zwei Baumstämmen befestigt ist, besteht, wartet ansonsten nur noch mit einem kleinen Sandkasten, drei Kletterstangen und einer grünen Holzbank auf. Diese Ausstattung verdanken die Wochenendurlauber der Arbeit, die im Zuge eines „sozialistischen Subbotniks“ angeordnet wurde. Er befindet sich gleich gegenüber Gänickes Grundstück. Dort wo der Waldrand noch am lichtesten ist, stehen die hochgewachsenen, von brauner, blätternder und harzverschmierter Rinde ummantelnden Baumstämme. Erst durch einen Blick in die Kronen kann man deuten, dass es sich um Kiefern handelt. Diese bewegen sich leicht knarrend im lauen Sommerwind. Im Moment ist das „Kinderareal“ dicht bevölkert von fünf Jugendlichen, die sich rauchend auf dem Klettergerüst und der Schaukel breitgemacht haben. Drei laut lachende Jungs überbieten sich in ihrem Imponiergehabe. Ziel ist es, die zwei leicht verschämten Mädchen gegenüber auf der Bank zu beeindrucken. Ulf verspürt keinerlei Lust, sich zu den augenscheinlich Gleichaltrigen zu gesellen. Warum sollte er sich freiwillig blöden Bemerkungen aussetzen? „Komm, lass uns etwas weiter gehen!“, raunt er Susanna zu. „Meine Mutti hat mir aber verboten, tiefer in den Wald zu gehen.“ „Wir müssen ja nicht richtig tief in den Wald gehen.“ Er deutet mit dem Zeigefinger auf die Schonung, die etwa fünfhundert Meter weit entfernt liegt. „Lass uns bis dahinten laufen. Vielleicht sehen wir dort sogar ein Reh. Ich hab da schon öfters Rehe gesehen.“ Susanna ringt mit sich selbst. Natürlich möchte sie gerne ein Reh beobachten, doch auf der anderen Seite ist die Stelle doch recht weit weg: „Da habe ich aber Angst.“ Urplötzlich ist sie wieder da, Ulfs Fantasie. Gegenüber der Kleinen ist er jetzt der Große, der unschlagbare Held. „Du brauchst doch keine Angst zu haben, ich bin doch bei dir. Wir wollen doch Vater-Mutter-Kind spielen. Und der Vater beschützt natürlich seine Familie!“ Susanna nickt zustimmend, dann folgt sie ihm. Sie sind knapp einen Meter von der Schonung entfernt, als sie ein Rascheln vernehmen. „Psst, vielleicht ein Reh?“ Aufgeregt schiebt sie die ersten Bäumchen zur Seite, betritt das Gestrüpp, doch nichts ist zu sehen. „Sicherlich nur ein Häschen“, stellt sie fest. Ihre anfängliche Angst weicht ihrem Tatendrang. „Lass uns etwas tiefer rein gehen! Vielleicht hat es sich ja dort versteckt.“ Immer weiter geht ihr Streifzug. Bis Susanna keine Lust mehr hat. „Komm lass uns jetzt spielen!