Название | Der Schrei des Subjekts |
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Автор произведения | Franz Josef Hinkelammert |
Жанр | Философия |
Серия | |
Издательство | Философия |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738051421 |
Es gibt aber eine andere Änderung des Textes, die viel wichtiger ist als irgendwelche teilweisen Einschübe. Es handelt sich um Änderungen des Sinnzusammenhangs des gesamten Textes. Jeder Text ist ein Sinnzusammenhang auf der Basis von Worten, die eine Bedeutung haben. Auch wenn es unmöglich ist, die wörtliche Gestalt des Textes zu verändern - zumindest wenn es sich um einen geschriebenen Text handelt - so kann der Sinnzusammenhang des Textes sich ändern in dem Grade, in dem die Worte ihre Bedeutung ändern, die dem Text zugrundeliegen. Im Laufe der Geschichte ändern Worte ihre Bedeutung. Ihre Bedeutung kann auch bewußt verändert werden, um den Sinnzusammenhang eines Textes zu beeinflussen, der als geschriebener Text nicht änderbar ist. Daher verändert sich im Laufe der Geschichte der Sinnzusammenhang, der durch den Text wiedergegeben wird. Der Text kann, ohne sich als Text zu verändert, heute etwas ganz anderes bedeuten als er gestern bedeutet hat. Wenn die alte Bedeutung der Wortee verloren geht, ändert sich die Bedeutung des Textes als Sinnzusammenhang, auch wenn er wörtlich der gleiche bleibt. In einem solchen Prozeß kann die Bedeutung des Textes sogar in ihr Gegenteil umschlagen, selbst ohne daß dies das Ergebnis irgendeiner Absicht ist, sei sie eine schlechte oder eine gute. Will man jetzt den ursprünglichen Sinn des Textes muß man die ursprüngliche Bedeutung der Worte wiedergewinnen, aus denen sich der Text zusammensetzt.
Heilige Texte haben natürlich genau dasselbe Problem der Ambivalenz. Auch sie sind in jedem Moment bedeutungsambivalent und auch sie verändern im Laufe der Geschichte ihre Bedeutung als Sinnzusammenhang. Es gibt keine eindeutigen Texte. Folglich gibt es auch keine “wörtliche” Interpretation des Textes, die eindeutig wäre und die über jeden Zweifel erhaben wäre. Dies verwirrt gerade dann, wenn es sich um Heilige Texte handelt, die als unumstößlich gültig betrachtet werden. Von solchen Texten nimmt man an, daß sie schlechterdings die Wahrheit sagen. Aber wenn jeder Text ambivalent ist, welche Version des Textes ist dann die wahre? Über diese Frage kann nicht der Text entscheiden, aber auch nicht ein neuer Text, der die angeblich richtige Version bezeichnet. In bezug auf Heilige Texte werden dann Autoritäten eingesetzt, die zu entscheiden haben, welche Version des Textes die wahre ist. Aber für diese Entscheidung gilt dann wieder dasselbe: auch sie ist ambivalent, denn auch sie mündet in einen Text ein. Dies ist dann das Problem eines jeden Anspruchs auf Unfehlbarkeit. Wenn jeder Text ambivalent ist, so ist es der für unfehlbar gehaltene Text auch. Daher kann nie ein Text unfehlbar sein, denn die Voraussetzung eines unfehlbaren Textes ist eine unfehlbar eindeutige Sprache. Auch wenn diese Autorität die unfehlbare Wahrheit weiß, kann sie sie nicht sagen. Folglich kann sie sie auch nicht haben. Diese Eindeutigkeit gibt es nicht, denn nicht einmal formalisierte Sprachen haben nie diesen Grad der Eindeutigkeit.
Die Änderung des Textes als Sinnzusammenhang ist in der Geschichte sicher unvermeidbar. Es entsteht dann der Versuch, den ursprünglichen Sinn des Textes zurückzugewinnen. Aber auch dieser Versuch bleibt zweifelhaft. Es gibt keinen Grund dafür, zu sagen, daß der historisch ursprüngliche Sinn eines Textes der wahre Sinn ist. Der wahre Sinn könnte auch später erst entdeckt worden sein. Möglicherweise hat der Text überhaupt keinen ursprünglichen Sinn in dieser begründenden Bedeutung. Im Text selbst aber können wir solch eine ursprüngliche Bedeutung ganz sicher nicht finden. Wenn der Text ambivalent ist, dann sind alle möglichen Interpretationen eben von Anfang an in ihm enthalten, auch wenn man sie noch nicht weiß. Es ist dies wie die Frage nach der wahren Absicht des Autors bei der Verfassung eines Textes. Es ist zweifelhaft, daß der Autor eine wahre Absicht überhaupt hat, und wenn er sie hat, ist sie für die Bedeutung des Textes letztlich irrelevant und vorwiegend ein Interesse für Biographen.
Nimmt man dies alles zur Kenntnis, dann scheint die Interpretation des Textes ein verlorenes Unternehmen. Tatsächlich ist es wie im Falle der Ambivalenz bestimmter Zeichnungen. Man hat eine Ente gezeichnet die, wenn man sie etwas anders betracht, ein Kaninchen ist. Je nach dem Wechsel unserer Position sehen wir eine Ente oder ein Kaninchen. Wir können aber nicht sagen, ob die Zeichnung nun die einer Ente oder eines Kaninchens ist. Auch wenn wir jetzt wissen, daß der Zeichner ursprünglich eine Ente gezeichnet hat und vom Kaninchen nichts gewußt hat, so hilft uns das für die Entscheidung überhaupt nicht. Die Ente ist dann der ursprüngliche Sinn, aber dennoch bleibt die Tatsache bestehen, daß die Zeichnung auch ein Kaninchen zeigt, wenn wir sie nur aus der entsprechenden Perspektive betrachten.
Dennoch ist die Interpretation des Textes keineswegs ein verlorenes Unternehmen. Der Text ist ambivalent, und häufig kann er sogar gegensätzlich und daher als Umkehrung gelesen werde. Er besagt dann das eine und auch das Gegenteil. In diesem Sinne widerspricht er sich dann selbst. Aber er ist deshalb nicht beliebig. Das ist auch wie bei der Ente und dem Kaninchen. Wir sehen eine Ente und dann ein Kaninchen. Aber wir können die Zeichnung betrachten wie wir wollen, wir werden keinen Elephanten entdecken. Der Text, auch wenn er einen doppelten Sinn hat oder mehrsinnig ist, ist dennoch nicht beliebig. Er enthält Optionen, aber nicht alles mögliche ist eine Option innerhalb des Textes. Der Text öffnet einen Raum von Optionen, aus dem andere Optionen ausgeschlossen sind. Diese Optionen aber sind nicht notwendig graduale Optionen. Sehr viel wichtiger sind die sich gegenseitig ausschließenden Optionen, die sich widersprechen. Der Text sagt dann aus einer Perspektive das eine aus, aber aus einer anderen das Gegenteil davon.
Gerade in der jüdisch-christlichen Tradition gibt es eine Fülle von Beispielen für diese Umkehrungen oder Inversionen ihres Sinnzusammenhanges, die diese Texte durchmachen und die innerhalb von Texten stattfinden, die ihrem Buchstaben nach völlig unverändert bleiben. Die Tatsache, daß zwei sich widersprechende Versionen im gleichen Text enthalten sind, bedeutet allerdings keineswegs, daß beide Versionen gleichberechtigt sind und die gleiche Lgitimität haben. Es gibt ein Wahrheitskriterium. Dieses aber liegt nicht im Text, sondern geht ihm voraus. Nur weil es dieses Wahrheitskriterium gibt, entstehen zwei sich widersprechende Versionen. Dieses Wahrheitskriterium ist das Opfer. Deshalb ist die Version des Isaakopfers, in der Abraham sich dem Gott, der das Opfer seines Sohnes fordert, widersetzt, die wahre Version, in der Abraham den Gott Abrahams entdeckt und achtet, der der Gott des Geopferten ist. Sie ist höchstwahrscheinlich auch die ursprüngliche Version. Aber sie ist nicht wahr, weil sie die ursprüngliche ihrer Genesis nach ist, sondern sie ist die ursprüngliche, weil sie wahr ist. Die entgegengesetzte Version, in der Abraham seinen Glauben dadurch beweist, daß er bereit ist, seinen Sohn zu opfern, ist falsch. Auch wenn sie den Text nicht ändert, ist sie ein Umkehrung. Als Text enthält dieser Text immer noch die Wahrheit. Aber sie ist verneint Es ist die Wahrheit der Orthodoxie, die zwar die Wahrheit hat, sie aber in der verneinten Form gefangen hält. Diese Orthodoxie benutzt den Text so, daß die Wahrheit, die er enthält, verneint wird. Im Namen des Textes wird die Wahrheit des Textes unterdrückt. Die Orthodoxie ist das Gefängnis der Wahrheit. Schon Thomas von Aquin sagt darüber: Was nützt es dem Menschen, wenn er die Wahrheit hat, aber in einem leeren Kopf? In Wirklichkeit aber ist es schlimmer: was nützt es dem Menschen, wenn er die Wahrheit hat, sie aber nur als verneinte Wahrheit mitschleppt. Die Wahrheit aller Erkenntnis liegt nicht in der Erkenntnis. Sie ist ein Weg der Befreiung des Opfers vom Opfer.
Diese Umkehrungen eines Sinnzusammenhanges können natürlich erleichtert werden durch Übersetzungen von einer Sprache in die andere, hängen aber keineswegs davon ab. Dennoch erhöht jede Übersetzung die Ambivalenz eines Textes. Der Text, der als solcher schon ambivalent ist, bekommt durch die Übersetzung neue Ambivalenzen: traductor - traidor. Der Übersetzer ist Verräter, aber er ist es nicht notwendig seiner Absichten wegen, sondern einfach deswegen, weil es nie Worte derselben Bedeutungsbreite in den verschiedenen