Die Gewalt des Sommers. Gunter Preuß

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Название Die Gewalt des Sommers
Автор произведения Gunter Preuß
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783742780126



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seinen Zähnen, ihn fröstelte. „Aber immer, Ali.“

      Ali wies mit ausgestrecktem Arm aufs Meer hinaus. „Drüben, uns gegenüber, ist Schweden. Links Dänemark. Scharf links Westdeutschland. Denk nicht, dass die da drüben pennen, niemals. Heißt wie? Also.“

      „Vorwärts und nie vergessen“, sagte der Junge schneidig. „Wessen Straße ist die Straße? Wessen Welt ist die Welt? Wir oder die? Seid bereit!“

      Der Pionierleiter nickte und lachte. Sie schwiegen, der Junge fror, er spannte die Muskeln an. Ali pfiff leise einen Schlager. Hinter ihnen war die Sonne schnell aufgestiegen - als würde vom Land her eine blutrote Fahne auf der grünen Wasseroberfläche ausgerollt.

      „Was stimmt nicht, was?“, fragte Ali unvermittelt.

      Boris duckte sich, er wollte antworten, fand aber kein Wort.

      „Geht schon“, sagte Ali. „Muss gehen.“

      „Meine Mutter“, sagte Boris schließlich. „Sie ist ...“

      „Weiß“, sagte Ali. „Tut weh, weiß.“

      „Sie ist – weg.“

      „Weg?“

      „Aus meinem Kopf. Einfach weg. Ich meine, ich kriege sie nicht mehr - zusammen. Ihr Bild – nur noch ein dunkler Fleck ...“

      Ali nickte. „Klar“, sagte er nach kurzem Schweigen. Er nickte abermals, sagte fest: „Kriegen wir hin, geht schon.“

      „Ja“, sagte Boris. „Ich weiß.“

      Ali wusste anscheinend über alles Bescheid, was das Geschehen in der Schule und darüber hinaus betraf. Manchmal fragte einer der Jungen scherzhaft, ob er vielleicht hellsehen könne. Ali sagte lachend, dass kleine graue Männlein ihm ab und zu was zuflüstern würden.

      Boris hatte den Großeltern von Alis erstaunlichen Fähigkeiten erzählt. Die hatten sich angesehen. Anna wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Bruno meinte, Boris solle nur einfach seine Sache machen und nicht rumreden. Gahlich, einer aus der Zehnten, ein Punk, der sich nach einem Indianerstamm „Mohawk“ nannte und mit seinem farbenprächtigen Irokesenschnitt wie ein Gockel über den Schulhof stolziert war, hatte gesagt, dass die „kleinen grauen Männlein“ bei der „Stasi“ seien. Die würden den Leuten hinterherschnüffeln. Mohawk war für die Erweiterte Oberschule vorgesehen, verließ dann aber überraschend am Ende der zehnten Klasse die Schule. Es wurde getuschelt, keiner wusste wirklich was. Die Lehrer waren froh, dass Mohawk nicht mehr das „Gesamtbild“ störte, bald war er vergessen.

      Boris hatte dem Pionierleiter gleich vertraut, er war beeindruckt von seinem sicheren Auftreten. Ali besaß noch immer den Ruf eines fairen Boxers. An der Schule erzählte man sich Geschichten aus seiner aktiven Zeit. Für die Teilnahme an einem internationalen Turnier sollte er sogar einem nach ihm rangierenden Boxer den Vortritt gelassen haben. Weil er ihm mehr Chancen für den Titelgewinn eingeräumt hatte. Ali meinte, der Einzelne sei nur so viel wert, wie er der Gemeinschaft von Nutzen war. Er war stark und zäh, eben ein Kämpfer, er sagte von sich selbst, er sei hart, aber gerecht, und wer mit ihm ginge, würde unter den Siegern sein.

      Sie saßen ein paar Minuten schweigend, den Blick aufs Meer gerichtet. Die eben noch rot glitzernde Oberfläche färbte sich golden, dann hellgrün. Selbst Ali, der sonst immer etwas anpacken und bewegen musste, saß reglos. Boris vergaß ihn, auch die Großeltern, die Mutter, das Dorf, sich selbst, einfach alles. Er hatte die Augen geschlossen und spürte das Streicheln des Windes. In ihm summte zärtlich eine Frauenstimme.

      Wie von weit her kam Boris zu sich. Jungen aus dem Zeltlager sprangen schreiend in die Sandkuhle und kamen zum Strand heruntergerutscht.

      4.

      Die Zeit auf der Insel verging in schnell wechselnden Bildern. Am frühen Morgen pickten die Mädchen und Jungen sich wie Vögel aus dem Ei, sie schüttelten ihre Flügel und schon schwangen sie sich in die Lüfte. Am späten Abend landeten sie flügellahm wieder auf dem Erdboden und ließen sich in einen tiefen Schlaf fallen, um am nächsten Morgen das gleiche lustvolle Spiel zu wiederholen.

      Mit jedem neuen Morgen fiel mehr Last von Boris ab. Das Gewesene blieb immer weiter zurück. Misstrauisch beobachtete er eine Szene wie aus einem Film über eine vergangene Zeit. Nach dem Waschen und dem Morgenappell fuhr täglich um die gleiche Zeit ein Tafelwagen am Essenszelt vor. Ein mächtiger rotbrauner Ochse ging im Geschirr, die großen Augen ausdrucksleer. Eine Frau mit grimmigem Männergesicht sprang gewandt vom Kutschbock und schlug mit einem Treibstock dem Tier zwischen die Hörner, dass es stehen blieb. In ihrem schmutzig-gelben Overall wirkte sie wie eine Wespe, die schlank und emsig umhersurrte. Sie zog die Milchkannen von der Ladefläche und stellte sie in schnurgerader Reihe vor dem Zelteingang auf. Mit schroffer Gebärde lehnte sie jede Hilfe ab. Wenn sie die leeren Kannen aufgeladen hatte, drosch sie abermals mit dem Stock gegen den mächtigen Schädel des Ochsen. Bevor der anruckte, kletterte sie zurück auf den Kutschbock, hatte gleich die Zügel fest in der Hand und knallte mit der dünnen Peitsche. Jedes Mal wichen alle Umstehenden instinktiv zurück. Im gemächlichen Trott des Ochsen entfernte sich der Wagen. Einige der Umstehenden rissen nun Witze darüber, dass sie die Milch nicht in den üblichen Beuteln oder Flaschen, sondern frisch aus der Kuh geliefert bekämen. Und was dieser klapprige Ochsenkarren überhaupt solle? Die Bauern hätten doch genug Autos und überhaupt das meiste Moos. Boris schaute dem Gefährt fasziniert, aber auch abwehrend hinterher, bis nur noch das gelegentliche Scheppern der Kannen zu hören war.

      Ali ließ sich jeden Tag etwas einfallen, mit dem er seine Schützlinge überraschte. Die Jungen und Mädchen schwammen morgens und abends in der Ostsee, spielten Volleyball, Fußball und Tischtennis. Sie setzten aufs Festland über und besuchten das mittelalterliche Stralsund mit seinen zahlreichen Toren, Kirchen und Türmen. Im Meeresmuseum standen sie stumm vor einem fünfzehn Meter langen Skelett eines Finnwals. Bei einem Bummel durch das Inselstädtchen Sassnitz besichtigten sie im Fischereihafen die nasskalten und dämmrigen Hallen der Fischverarbeitung. Junge und alte Frauen mit weißen Haarnetzen, langen Gummischürzen und in klobigen Stiefeln sortierten die Fische und verpackten sie in Kisten. Die Frauen sprachen, wenn überhaupt, knapp miteinander. Kaum eine sah mal hoch. Auch die Besucher verstummten angesichts der Düsternis, der klammen Luft und des scheinbar unter die Haut gehenden Fischgeruchs. Wieder im Licht sahen sie vom Kai aus sehnsüchtig der Eisenbahnfähre nach dem schwedischen Trelleborg hinterher. Auf dem Jasmunder Bodden setzten sie mit einem Kutter nach Ralswiek über. Hier wurde in einer Bucht zu den Festspielen die „Ballade von Klaus Störtebeker“ aufgeführt. Ali hatte die spannende Geschichte des Seeräubers, der auf Rügen geboren sein sollte, am Lagerfeuer erzählt: Der Störtebeker hatte im Streit seinen Brotherrn erschlagen, war unter Piraten geraten und selbst zum Anführer der legendären Vitalienbrüder geworden. Schließlich hatte man ihn gefasst und enthauptet. Irgendwo auf der Insel sollte er einen Schatz vergraben haben. Für die Boxgruppe war täglich eine Stunde Training angesetzt. Ali sagte, dass er den Jungen den nötigen Schliff geben würde. Der sollte die Muskeln härten, die Lungen dehnen, den Biss schärfen und vor allem das Kämpferherz formen. Der Körper brauche Kultur, vor allem, klar doch.

      An einem Tag voller steifer Böen wanderten sie auf den steil zum Meer abfallenden Kreidefelsen über das Nordkap der Insel. An den Ruinen des Walles einer Tempelburg gebot Standke Halt. Der Lehrer ließ wissen, dass sich hier die Jaromasburg mit dem Standbild des slawischen Gottes Swantewit befunden habe. Elfhundertachtundsechzig sei sie vom dänischen König Waldemar I. zerstört worden.

      Die nüchternen und nicht enden wollenden Wissenskundgebungen des Geschichtslehrers erzeugten bei den Schülern gähnende Langeweile. Die Jungen lenkten sich mit versteckten Rempeleien und dem Erzählen von Witzen ab. Die Mädchen traten von einem Bein aufs andere, hauchten in die Hände und steckten die Köpfe zusammen. Alle sehnten sich nach einer heißen Suppe aus der Feldküche, die sie im Lager erwartete.

      Boris sah hinüber zu einem weitläufigen Gelände, das mit Stacheldraht umzäunt war. Schilder, die das Betreten strengstens untersagten, wiesen auf ein Militärgelände hin. Malisch stand massig neben ihm, nickte zu den beiden