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      Ein Jahr ist vergangen, seit Lyra die ersten Veränderungen an sich entdeckte, ihre Haare kurz schor und der Normalität entfliehen wollte.

      Aber was ist normal?

      Mittlerweile zählt die Magie zu ihrem Alltag. Vieles von dem, was Lyra nur aus Büchern und Filmen kannte, ist nunmehr Realität. Gestaltwandler, Hexen, Nymphen, Satyrn … und selbst ein Märchen wie Rotkäppchen entpuppte sich als nicht gerade romantische Wirklichkeit. Sie rang mit Redrubi, besiegte untote Werwölfe und blickte dem Urvampir ins Antlitz. Mehr noch – sie gab ihm unfreiwillig ihr Blut, sodass er von den Toten auferstehen konnte.

      Und doch gibt es keinen Schatten ohne Licht. Weihnachten verbrachte Lyra in Island, fand eine Familie, Gleichgesinnte und die Liebe zu Ian. Alles hätte schön sein können, wären da nicht die archaischen Rudelgesetze, der bevorstehende Krieg und ebenjene erschütternde Nachricht, dass Ian sich mit dem Virus infizierte und bald zu einer blutrünstigen Bestie mutieren würde.

      Nach den dramatischen Ereignissen in der Pollnagollum-Höhle hängt ihr Leben am seidenen Faden. Doch Lyra gibt nicht auf. Die dunkle Seite gewinnt zunehmend an Kraft und nicht nur in Lyra wächst die Sehnsucht nach Vergeltung …

      Wo war sie?

      WAS war sie?

      Lyra hörte die Stimmen ihrer Tante Miranda und der beiden Rabenbrüder. Doch da war noch mehr. Geräusche, Gespräche, Musik, Lachen, Weinen … und die tosende See. Ihre Sinne waren schärfer denn je. Sie nahm ihre Umwelt nicht mehr nur durch ihre kognitiven Fähigkeiten wahr, sondern in einer weiteren Dimension. Ganzheitlich – als wäre sie sowohl in ihrem Körper als auch außerhalb davon. Sie dachte an ihre erste Verwandlung unter dem Apfelbaum in Irland, an die Höhle der Beanna. Damals war ihr Geist aus ihrem Körper geflogen, sie hatte die Welt von oben betrachtet, bis die Verwandlung vollzogen und sie als Luchs in den Wald gelaufen war.

      Und jetzt?

      Verwandelte sie sich jetzt wieder?

      Nein, es war anders. Sie konnte gleichzeitig innen und außen sein. Sie fühlte die warme Hand ihrer Tante, hörte Dagur und Arnar über ihren Zustand diskutieren, sie roch gebratenen Fisch und sah trotzdem das Schiff, in dem sie sich offensichtlich befanden. Es trotzte dem stürmischen Wetter, sein Bug schnitt die hohen Wellen.

      Was war geschehen? Redrubi hatte sie gebissen, die Pollnagollum-Höhle, der alte Cathán war zum Leben erwacht. Und sie, Lyra? War sie noch die alte?

      »Kätzchen, mach die Augen auf!«

      Nein, sie war noch nicht bereit für die Realität. Was, wenn Ian längst ein Zombie war? Was, wenn der Krieg alle vernichtete, die Lyra liebte? Was, wenn …?

      Nein, sie durfte nicht länger hier herumliegen.

      Sie musste etwas tun.

      »Da, sie blinzelt wieder!«

      Lyra öffnete die Augen, bekam ein Bild zu dem, was sie gehört hatte. Miranda und die Rabenbrüder hockten vor ihr. Sie lag auf einem Bett. Langsam drehte sie den Kopf und sah ein großes Bullauge, davor Wasser, das im stetigen Rhythmus der Wellen an die Scheibe klatschte. Sie waren tatsächlich auf einem Schiff, auf hoher See.

      »Wie lange war ich weg?«

      »Knapp vier Tage«, flüsterte Miranda und wischte sich Tränen von den Wangen. Noch nie hatte Lyra ihre toughe Tante weinen sehen.

      Vier Tage.

      Aber sie war am Leben.

      »Wie geht es Ian?«, murmelte Lyra jene nächste Frage, die ihr auf der Seele brannte. War auch er am Leben oder längst eine untote Bestie?

      »Nichts Neues aus Island«, sagte Miranda und schaute kopfschüttelnd auf ihr Handy. Warum war ihre Tante so wortkarg? Irgendeine Nachricht musste in vier Tagen doch gekommen sein?

      Dagur und Arnar plapperten dafür umso enthusiastischer – mal abwechselnd, dann wieder synchron erzählten sie Lyra, was geschehen war.

      »Cathán senior hätte uns gern ausgelutscht. Der war krass drauf, als er von den Toten auferstand«, sagte Dagur.

      »Aber Redrubi hielt ihn zurück«, fügte Arnar hinzu. »Ich sage dir, die führt noch mehr im Schilde, sonst hätte sie uns nicht verschont.«

      Lyra hatte einige Mühe, sich auf das Gesagte zu konzentrieren. Während sie sich aufsetzte und durstig vom Wasser trank, das Miranda ihr gereicht hatte, hörte sie zu und dachte nach.

      Die Rabenbrüder erzählten weiter, wie sie Lyra aus der Höhle getragen hatten. Es musste eine ziemliche Schinderei gewesen sein. Sie war zwar nicht mehr so pummelig wie noch vor einem Jahr, aber doch größer und auch schwerer als die kleinwüchsigen Zwillinge. Dagur berichtete, dass sie vor der Höhle eine Trage gebaut hätten, um Lyra bis zum Auto zu schleppen. Miranda schaltete sich in die Ausführungen ein und sagte, dass sie in einem kleinen Gasthof übernachtet hätten und dann direkt zum Hafen nach Belfast gefahren wären. Es gab keine Fährverbindung von Irland nach Island. Sie hätten über Dänemark reisen können, aber das wäre ein Trip von etwa einer Woche gewesen. Mit dem Flugzeug wäre es am schnellsten gegangen, aber nicht mal Mirandas magische Überredungskünste hätten die Mitarbeiter am Flughafen davon überzeugen können, der halb toten Lyra ein Ticket auszustellen. Also waren sie auf einem Frachtschiff unterwegs. Die ausschließlich männliche Besatzung hatte Miranda relativ schnell überzeugen können – zum einen mit ihren erotischen Reizen, zum anderen mit einer ordentlichen Stange Geld.

      Durch Lyras schmerzenden Kopf geisterten Bilder von Kapitän Ahab und Moby Dick, der Meuterei auf der Bounty und Herbert Grönemeyer als Leutnant Werner an Bord von U 96. Allesamt keine besonders attraktiven Männer, was sie zu der Frage brachte: »Du musstest aber nicht mit einem der Kerle ins Bett, oder?«

      Miranda kicherte. »Und wenn, war das mein Privatvergnügen. Seeleute sind so hübsch hungrig.«

      Lyras Sinne schweiften zu dem Geruch nach gebratenem Fisch, den sie eben noch wahrgenommen hatte. War das nur Einbildung gewesen? Nein, es roch tatsächlich …

      Sie sprang auf, schaute sich hektisch in der kleinen Kabine um, fand eine Tür, an der kein grünes Schild angebracht war, das auf einen Fluchtweg hinwies. Dahinter entdeckte sie ein Waschbecken, eine Dusche und …

      Würgend riss sie den Toilettendeckel hoch und spuckte das Wasser wieder aus. Mehr hatte sie offenbar nicht im Magen. Wie auch – nach vier Tagen im Koma?

      Kalter Schweiß bedeckte ihren zitternden Leib. Vor der Tür hörte sie Dagur und Arnar lamentieren, ob es sich um Anzeichen einer Verwandlung, Genesung oder Seekrankheit handelte. Miranda war praktischer veranlagt. Sie kam in das winzige Bad, knallte die Tür hinter sich zu und half Lyra beim Aufstehen.

      »Kätzchen, du wirst jetzt duschen, deine Zähne putzen und dann besorgen wir dir was zu essen.«

      Beim letzten Wort musste Lyra erneut würgen, aber da war nichts, was sie hätte von sich geben können. Nur grüne Galle, die aus ihrer Kehle zum Wasser im Klosett spritzte. Keuchend tastete sie nach der Spülung. »Wo …?«, fragte sie und stöhnte. Miranda betätigte einen Knopf, woraufhin der Inhalt des Toilettenbeckens geräuschvoll abgesaugt wurde.

      »Ich kann nichts essen«, seufzte Lyra und zog sich das verschwitzte Shirt über den Kopf.

      »Doch, Kätzchen! Gegen Seekrankheit hilft am besten Essen. Gegen die Folgen eines massiven Blutverlustes ebenfalls, vom