Medizinische Grundlagen der Heilpädagogik. Thomas Hülshoff

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Название Medizinische Grundlagen der Heilpädagogik
Автор произведения Thomas Hülshoff
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846358351



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ganzheitlich orientierten Heilungsprozesses beizutragen.

       Behinderung

      Kurz soll noch auf den Begriff der Behinderung eingegangen werden. So ist im Sinne des Schwerbehindertengesetzes eine Behinderung „die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht“ (zit. n. Hörning in Schwarzer 2010, 26). Diese eher defizitorientierte und individuumzentrierte Betrachtung ist nicht unproblematisch.

      Nach einer älteren Definition der Weltgesundheitsorganisation (neuere Definitionen betonen mehr Chancen, Herausforderungen und Entwicklungsmöglichkeiten) lässt sich der Behinderungsbegriff in die Aspekte der Schädigung (impairment), der Funktionseinbuße (disability) und der Beeinträchtigung (handicap) differenzieren.

      Entscheidend ist nicht nur das Ausmaß der Schädigung: Vergleichsweise große Hirnverletzungen können ggf. mit nur geringfügigen Lähmungen oder anderen Funktionseinbußen einhergehen – und umgekehrt. Außerdem kann der Schweregrad von Funktionseinbußen auch von medizinisch-rehabilitativen Behandlungen, heilpädagogischen und anderen Förderungen und nicht zuletzt von der biografisch-individuellen Persönlichkeitsentwicklung abhängen.

       Benachteiligung

      Letztendlich sind aber neben der Schädigung und den Funktionseinbußen vor allem Beeinträchtigungen und Benachteiligungen zu beachten, da sie wesentlich die Partizipation am soziokulturellen Leben erschweren können. Gerade im Bereich der „Beeinträchtigung“ gilt ganz besonnders, dass man behindert wird: Beispielsweise durch unüberwindbare Bahnsteigkanten, unzugängliche Eingänge, aber auch durch Stigmatisierungen und inadäquate Einstellungen von Mitmenschen.

       Paradigmenwechsel

      Die Diskussion um Beeinträchtigung und Behinderung hat sich im Rahmen verschiedener Paradigmenwechsel verändert. So war das vorherrschende (und heute noch relevante) Paradigma der 1960er Jahre das „Normalisierungsprinzip“, in dem erstmals formuliert wurde, dass auch und gerade Menschen mit Behinderung ein an dem normalen Alltag ihrer nicht behinderten Mitmenschen orientiertes Leben, so normal wie möglich, führen sollten. Beispielsweise sollte durch Barrierenreduktion und Teilhabe am Arbeitsprozess auch eine Integration in das soziokulturelle Leben einer Gesellschaft ermöglicht werden, wobei das Integrationsparadigma wesentliche Gedanken des Normalitätsprinzips aufwies und um den Gedanken der Partizipation erweiterte.

      Schließlich war das „Assistenzprinzip“ ein weiterer paradigmatischer Fortschritt: Heilpädagogen, Ärzte, Heilerziehungspfleger und andere Berufsgruppen wurden nun zunehmend als professionelle Dienstleister verstanden, die von Menschen mit Behinderung in Anspruch genommen werden konnten, wobei der Behinderte der Auftraggeber war. Das Assistenzprinzip beinhaltet also wesentliche Aspekte der Autonomie und Selbstbestimmung behinderter Menschen, die selbst am besten einschätzen können, was hilfreich für sie ist.

      Das Inklusionsparadigma schließlich geht noch über den Gedanken der Integration hinaus: Menschen mit Behinderung, so kann man vereinfachend formulieren, partizipieren nicht nur an einer Gesellschaft, sondern sie sind einer ihrer essentiellen Bestandteile und definieren sie mit. Eine Gesellschaft, in der für Menschen mit Behinderung kein Platz ist oder nur Randplätze vorgesehen sind, wird kälter und unmenschlicher – und zwar für alle ihre Mitglieder. Das Verdrängen der Möglichkeit, als Eltern eines behinderten Kindes oder infolge von Alter, Krankheit oder Unfall selbst behindert zu sein, führt individuell wie gesellschaftlich zu erheblichen Fehlentwicklungen. Die Inklusion von Menschen und Gruppen mit und ohne Behinderung in einer sich als soziokulturelle Einheit verstehenden Gemeinschaft ist also für das Funktiuonieren einer humanen Gesellschaft unabdingbar.

      Zusammenfassend ist also zu sagen: Krankheiten und Behinderungen können als ein komplexes Geschehen verstanden werden, das den Menschen in seiner körperlichen, seelischen und sozialen Dimension betrifft. Eine im wohl verstandenen Sinne ganzheitliche Medizin wird dies berücksichtigen und neben den primär körperlichen Symptomen und Funktionsstörungen das emotionale Erleben und die psychosozialen Interaktionen berücksichtigen. Versteht man Krankheit als Überforderung und Krise des Menschen, die sich auf diesen drei Ebenen zeigt, so lässt sich dies in besonderer Weise am Beispiel der Stressreaktion verdeutlichen:

      Hier greifen körperliche, seelische und soziale Faktoren ineinander und führen dazu, dass unterschiedliche Stressoren zu körperlich-seelischen Reaktionen führen, die subjektiv als Stress erlebt werden und körperlich Erschöpfungssyndrome und Krankheiten verursachen können. Die sozialen Gegebenheiten tragen darüber hinaus ganz wesentlich dazu bei, ob und inwieweit dieser Stress bewältigt wird oder ob es zu einer chronischen Überforderung mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen kommt. Hierauf wird im folgenden Kapitel eingegangen.

      Am Anfang eines Seminars zum Thema „Krise und Krankheit“ steht mitunter eine Übung, in der die Studierenden gebeten werden, die Augen zu schließen und sich möglichst entspannt hinzusetzen. Nach einer kleinen „meditativen Reise durch den eigenen Körper“ werden sie gebeten, sich an die letzte Krankheit zu erinnern: „Woran waren Sie erkrankt? Wo wohnten Sie zu dieser Zeit? Mit welchen Menschen standen Sie in Verbindung? Welche Aufgaben standen – abgesehen von Krankheit und Gesundung – zu dieser Zeit für Sie an? Welchen Verlauf nahm die Krankheit, und welche Faktoren und welche Menschen haben zur Gesundung beigetragen? Wie fühlten Sie sich nach der Gesundung? Gab es Veränderungen im Leben, und welche Aufgaben standen nun an?“

      Eine weitere, vertiefende Übung kann darin bestehen, die wesentlichen erinnerten Krankheiten des bisherigen Lebens auf eine linke Spalte eines Bogens zu schreiben und auf der rechten Spalte die Lebenssituation und Entwicklungsaufgaben der jeweiligen Zeit festzuhalten. Mitunter zeigt sich, dass Krankheit und Gesundheit zumindest subjektiv korrelieren mit bestimmten Herausforderungen anderer, beispielsweise sozialer Art, die sich manchmal wie ein roter Faden durch das bisherige Leben durchziehen. Krankheit, so hat es den Anschein, tritt besonders in Phasen des Übergangs und subjektiv als Stress erlebte Herausforderung auf. Zwar gibt es externe Krankheitsfaktoren, die mehr oder weniger unabhängig einen Menschen krank machen, doch können mitunter Zusammenhänge zwischen sozialem und subjektivem Empfinden und einer erhöhten Krankheitsanfälligkeit bestehen: Jeder kennt das Phänomen, dass er in Zeiten schweren körperlichen oder seelischen Stresses eine erhöhte Infektanfälligkeit aufweist. In Zeiten psychischen und sozialen Wohlbefindens hingegen kann sich unsere Resilienz gegenüber Infektionen erhöhen.

       Krankheitsgewinn

      In der psychosomatischen Medizin sind solche Zusammenhänge schon seit langem bekannt. So stellen psychosomatisch orientierte Ärztinnen und Ärzte bei Auftreten einer Krankheit auch die Schlüsselfrage: „Warum diese Krankheit und warum jetzt“? Sie gehen dabei u. a. auch von der Erkenntnis aus, dass eine Krankheit primären und sekundären Krankheitsgewinn mit sich bringen kann. Unter Letzterem versteht man die Fürsorge, Rücksichtnahme, Zuwendung und Rollenbefreiung, die eine Krankheit möglicherweise zur Folge hat: Man wird von Hausarbeiten entlastet, krankgeschrieben und von der Verantwortung für momentane Schwächen befreit, wie das bereits im Rollenmodell von Parsons zum Ausdruck gekommen ist (s. Kap. 2.1). Darüber hinaus kann körperliche Krankheit aber auch Ausdruck eines intrapsychischen, unbewusst verlaufenden und momentan unteroptimal gelösten Konfliktes sein. In diesem Fall sprechen wir von primärem Krankheitsgewinn. Er besteht darin, dass der Konflikt zunächst nicht offen zutage treten muss.

      Ein 15-jähriges Mädchen litt unter wiederholten augenscheinlich „epileptischen“, tatsächlich jedoch psychogenen Anfällen, die sehr den Krampf-anfällen seines hirnorganisch geschädigten Bruders ähnelten. Die in diesen psychogenen Anfällen demonstrierte Ohnmacht korrespondierte