Staubfänger. Lucie Faulerová

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Название Staubfänger
Автор произведения Lucie Faulerová
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783946120605



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      LUCIE FAULEROVÁ, geboren 1989 in Pardubice, ist eine tschechische Schriftstellerin, Dramaturgin und Redakteurin. Sie ist Co-Autorin des Buches BRNOX. Ein Führer durch die Brünner Bronx (2016) über ein sozial benachteiligtes Viertel von Brünn, das 2016 mit dem Magnesia Litera Award für Journalismus ausgezeichnet wurde. 2021 erhielt sie für ihren Roman Smrtholka den Europäischen Literaturpreis. Ihr Romandebüt Staubfänger war ein viel beachtetes Ereignis in der tschechischen Literaturszene und ist das erste Werk der Autorin, das ins Deutsche übersetzt wird. Die Literaturkritik vergleicht ihre Texte mit denen von Melissa Broder und Audrey Wollen, der Schöpferin der Sad Girl Theory.

      JULIA MIESENBÖCK, geboren 1985 in Freistadt in Österreich, ist Bohemistin und Übersetzerin. Nach dem Studium der Komparatistik und Slawistik an der Universität Wien war sie als OeAD-Lektorin an der Jagiellonen-Universität in Krakau und später am Goethe Institut Prag tätig. Zurzeit lebt sie in Prag als freiberufliche Übersetzerin aus dem Tschechischen und Englischen sowie als Lektorin für Deutsch als Fremdsprache.

      LUCIE FAULEROVÁ

      STAUBFÄNGER

      AUS DEM TSCHECHISCHEN VON

      JULIA MIESENBÖCK

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      Für Jan Černoš, weil er am Anfang stand.

      Für Jáchym Topol, weil er es weitergeleitet hat.

      Für Hanka und Hájena, darum.

      Für Michaela.

      Inhalt

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       EINS

       ZWEI

       DREI

       VIER

       FÜNF

       SECHS

       SIEBEN

       ACHT

       ACHTEINHALB

      Gestern bin ich gestorben

      Und heut schon wieder

      Ich sitz in der Arbeit

      Immer hab ich geahnt

      Dass es so sein wird

      Ich sterbe

      Und ein Scheiß passiert

      Milan Ohnisko: Milancholia

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      Das war der schlimmste Moment ihres Lebens, bis auf all die anderen. Das war der schlimmste Moment meines Lebens, bis auf all die anderen. Bis auf all die Momente, die ich schon hinter mir hatte und die mir zuwinkten, mit zufriedenem Ausdruck nach gut geleisteter Arbeit, und bis auf all die Momente, die sich auf mich freuten, ungeduldig von einem Bein aufs andere traten, mich mit vorgestrecktem Kinn und offenen Armen erwarteten.

      Doch das Lustige daran ist, dass man sich wirklich an alles gewöhnen kann. Und so wird es mit der Zeit irgendwie langweilig. Man zittert nicht mehr vor Angst, kaut nicht mehr an den Nägeln, weil man nervös ist, man hält das Gesicht hin, bereit für die Ohrfeige, und mit dem Finger zeigt man sogar auf die Stelle, an die man diesen beißenden Segen dieses Mal bekommen möchte, oh ja, bitte, mehr, mehr, Klatsch auf die eine Seite, Klatsch auf die andere. Und falls es nicht genug wehtut, falls einen das nicht überrascht, bestürzt, in die Knie gehen lässt, die Sporen gibt, zu Boden wirft, nicht beinahe tötet und den Hals zuschnürt, ist man sogar etwas enttäuscht. War das alles …? Im Ernst – das? Mehr hast du nicht zu bieten? Na so was. Daumen runter.

      Das aber war der schlimmste Moment meines Lebens. Mit Sicherheit. Voll und ganz. Ohne Wenn und Aber. Also bis auf all die anderen, das versteht sich von selbst.

      Über die leere Bühne erklingt ein müdes Schlagzeug, ba-dam tsss, ich mache mich aus dem Staub und schalte die letzte blinkende Leuchtstoffröhre aus.

      EINS

      Durch die belebte Straße geht eine junge Frau, doch in Wirklichkeit ist sie älter, als ihr sie euch vorstellt. Es ist einer dieser Herbsttage, an denen der Sommer noch einmal zu spüren ist. Ja, Altweibersommer könnte man sagen, aber es war einer dieser Herbsttage, an denen der Sommer noch einmal zu spüren war. Die Sonne war nicht mehr warm genug, damit man im Park auf einer Bank sitzen kann, aber es reichte noch für einen Spaziergang im dünnen Pullover. Und in einem solchen Pullover ging die junge Frau, sie ist aber wirklich älter, als ihr sie euch vorstellt, durch die belebte Straße. Eigentlich trägt sie einen Mantel … nein, einen Pullover. Hm. Die junge Frau ging durch die Straße in einem leichten cremefarbenen Mantel. Es war ein netter Vormittag, so nett, wie ihr euch eben einen netten Vormittag an einem dieser Herbsttage vorstellen könnt, an denen sich der Sommer noch einmal meldet.

      Sie war groß und schlank, vielleicht war sie auch eher mager und lang, und ihre vollen Lippen, auch wenn ihr euch statt eines entenschnabelartig verzogenen Mundes, der trotz eines leichten Lächelns den Eindruck von etwas Aufgeblasenem, Kindlich-Angewidertem erweckt, ganz irrtümlich sinnlich volle Lippen vorstellt – was wir aber nun für den Zweck des Erzählens vergessen und daran denken, dass ihre vollen Lippen ein Lächeln formten, die Mundwinkel leicht hochgezogen, was genauso erfrischend war wie einer dieser Herbsttage, an denen sich blablabla. Stellt euch das einfach vor, diese freundliche Atmosphäre, die sich über die Stadt legt, und der Wind, weder kalt noch warm, weder stark noch schwach, zerzaust ihre Haare, lässt ihren Trenchcoat auseinandertanzen und legt ihre Hüften frei, die weder rundlich noch grazil sind.

      Sie wollte die Straße überqueren, blieb am Randstein stehen, blickte in die Baumkronen auf der gegenüberliegenden Seite. Die grünen Blätter wechselten ihre Farbe und wurden gelb. Die gelben wurden orange. Die orangen wurden braun. Die braunen wurden grün. Diesmal konnte sie fast zauberhaft lächeln, doch sich diese Figur zauberhaft vorzustellen ist genauso, als würde man sich Schnee im Juli vorstellen. Oder einen Grizzlybären, der einem über die Haare streichelt. Oder Taubenpärchen, die Samba tanzen. Sie konnte aber fast zauberhaft lächeln, wenn man ein Auge zudrückt und das zweite lieber gar nicht erst öffnet, zauberhaft, als sie auf die Fahrbahn trat, denn sie dachte, dieser Schritt sei ein Schritt, der Hoffnung und Entschlossenheit symbolisierte, ein Schritt in die Zukunft, in der –

      Und jetzt kommt’s! Schon ist es passiert. Ein Auto hat sie angefahren, so plötzlich, dass sie keine Zeit hatte, erschrocken in Zeitlupe ins Scheinwerferlicht zu schauen. Auch ihr Leben hatte keine Zeit, an ihr vorbeizuziehen. Was würde da auch vorbeiziehen, wohl eher würden sich nur Abfall und Staub langsam durch ihren Kopf wälzen. Aber auch das geschah nicht. Ganz einfach bumm, zack und aus. Und kein Licht am Ende des Tunnels, noch nicht einmal ein schwaches Aufblitzen. Sie lag regungslos da. Und poetisch rann das Blut über ihren cremefarbenen Mantel, und kein Blättchen