Soziale Arbeit. Johannes Schilling

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Название Soziale Arbeit
Автор произведения Johannes Schilling
Жанр Социология
Серия Studienbücher für soziale Berufe
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783846388082



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Orientierung der Fürsorge am „Volksganzen“: Die Orientierung am Einzelschicksal wurde zugunsten einer Orientierung am „Volksganzen“ aufgegeben. Die „Befürsorgung minderwertiger“ Menschen wurde ganz aufgehoben. Die nationalsozialistische Volkswohlfahrt betreute nur aus ihrer Sicht förderungswürdige so genannte „erbgesunde und wertvolle“ Familien. Die Klientel der NSV wurden eingeteilt in „förderungsunwürdige“ und „förderungswürdige“ Menschen.

      3. Schutz vor so genanntem „Kranken-Erbstrom“: Durch gezielte Maßnahmen, wie ab 1933 die Zwangssterilisierung und ab 1939 die Ermordung hilfloser behinderter Menschen, sollte die abendländische Kultur bzw. die „arische Rasse des deutschen Volkes“ künftig vor „ungesundem Erbgut“ und „kranken Erbströmen“ geschützt werden. Um diese Ziele zu erreichen, führte man zunächst nur wenige Gesetzesänderungen durch. Die aus der Weimarer Republik stammenden Gesetze mussten lediglich restriktiv ausgelegt werden. Dazu reichte eine entsprechende Personalpolitik. Dann änderten die Nationalsozialisten aber nach und nach die Sozialgesetzgebung bzw. gaben neue Verwaltungserlasse heraus, die aber häufig schon im vorauseilenden Gehorsam durch die Sozialverwaltungen befolgt wurden (Gruner 2002).

       neue Ethik

      Man muss festhalten, dass die in der Sozialen Arbeit (Volkspflege) Tätigen an der Umsetzung der Politik der Entartung und der Durchsetzung der dazu gehörenden neuen Ethik von der ungleichen Wertigkeit der Menschen in vielfältigen Formen beteiligt waren. Sie haben in der großen Mehrzahl das neue Konzept der ausgrenzenden Volkspflege mitgetragen (Kuhlmann 2012, 88, 92).

      Man kann zusammenfassend sagen, dass die Entwicklung der Sozialen Arbeit nach der Machtübernahme Hitlers 1933 durch einen dramatischen und enthumanisierenden Paradigmenwechsel bestimmt wurde und dass man nach dem Kriegsende dort wieder ansetzen musste, wo man vor 1933 aufgehört hatte.

      Der Wiederaufbau des sozialen Netzes nach dem Zweiten Weltkrieg verknüpfte zwei Linien:

       Neubeginn

      1. Die sozialen Fachkräfte versuchten wieder dort anzusetzen, wo der Entwicklungsprozess der Fürsorge bzw. der Sozialen Arbeit als Ausbildungssystem und Profession durch den Nationalsozialismus auf dramatische und enthumanisierende Weise unterbrochen worden war. So hielt man in der 1949 entstandenen Bundesrepublik zunächst noch einige Jahre am bestehenden System der Weimarer Republik der Sozialversicherungen und Renten grundsätzlich fest. Es gab vorerst auch keinen Anlass zur Veränderung, zumal die Westalliierten das deutsche System der Sozialversicherung allgemein als fortschrittlich und vorbildlich ansahen. Im Wesentlichen galten die gesetzlichen Grundlagen der Weimarer Republik weiter.

      2. Durch die Beeinflussung der Westalliierten wurde der Wiederaufbau der Sozialen Arbeit nach dem Muster des Sozialwesens in England und den USA geprägt. Man übernahm, zunächst recht unkritisch, die so genannten modernen „klassischen Methoden: Casework/Einzelhilfe, Groupwork/Gruppenarbeit und Community Work/Gemeinwesenarbeit.

      Mit einer Reihe von gesetzlichen Grundlagen versuchte die damalige Bundesregierung die Probleme der Nachkriegszeit in den Griff zu bekommen. Hier sollen nur zwei exemplarisch genannt werden:

       JWG (1961)

      ■ Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) von 1961 mit verschiedenen Neufassungen bis zur Neuformulierung im „Kinder- und Jugendhilfegesetz“ (KJHG) von 1991

       BSHG (1961)

      ■ Das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) von 1961/62 und Vorläufer unseres heutigen neuen Sozialgesetzbuches (SGB). Das Gesetz sollte dazu beitragen:

      - ein menschenwürdiges Dasein für alle BürgerInnen zu sichern,

      - gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu schaffen,

      - die Familien zu schützen und zu fördern,

      - den Erwerb des Lebensunterhaltes durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und

      - besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden oder auszugleichen.

      Nach dem BSHG hat jede/r BürgerIn einen Rechtsanspruch auf Sozialhilfe. Das Gesetz verfolgt den Zweck, der/dem Hilfebedürftigen bei eigener Mitwirkung einen gegebenenfalls einklagbaren Zugang zu einem Leben der Selbstbestimmung zu schaffen, damit sie/er und ihre/seine Familie ein menschenwürdiges Dasein führen können. Das BSHG führte neue Begriffe ein: aus Fürsorge wurde Sozialhilfe, aus Jugendfürsorge und Jugendwohlfahrtspflege wurde Jugendhilfe, aus Wohlfahrtspflege als Sammelbegriff wurde die Bezeichnung Soziale Arbeit (Hering/Münchmeier 2014, 114).

       Würden Sie der Formulierung zustimmen: „Wenn man von Armut spricht, meint man stets materielle Armut.“ Oder würden Sie Armut anders umschreiben?

      Wenn man von Armut spricht, sollte man nicht nur an materielle Armut, sondern auch an andere gesellschaftliche Formen der Armut denken.

      Im Folgenden soll nach dem Verständnis der Armut gefragt werden. Das Verständnis von Armut hat sich im Laufe der Geschichte gewandelt. Armut ist ein relativer, gesellschaftlicher Tatbestand.

       Armut heute

      „Was aber heißt relativ. Relativ ist z. B. das jeweilige Einkommen im Verhältnis zum durchschnittlichen Verdienst eines Erwerbstätigen; relativ sind die, für die Festsetzung des „Mindestbedarfs“ erforderlichen, Konsumtionsmittel im Verhältnis zum durchschnittlichen Wert der Ware Arbeitskraft; relativ ist die Kaufkraft der Menschen mit Bezug auf die Teuerungsrate der zum Lebensunterhalt erforderlichen Konsumtionsmittel; relativ ist schließlich auch die Wahrnehmung von Ansprüchen im Verhältnis zu den disponiblen Sozialleistungen. Relativ ist individuelle Armut somit im Vergleich zur Gesamtheit gesellschaftlich verteilter Konsummöglichkeiten, zu Umfang und Qualität der gesellschaftlich verteilten Geld-, Dienst- und Sachleistungen. Armut ist mithin nicht bloß ein Problem ökonomischer Mangel- und Abhängigkeitssituationen. Sondern Armut ist immer gleichzeitig ein Problem ökonomischer sowie auch sozialer Ungleichheit, damit also als relativ anzusehen.“ (Zander 1987, 138)

       Paradigmenwechsel

      Man kann von einem sozialpolitischen Paradigmenwechsel sprechen, einer feststellbaren qualitativen Veränderung von Erscheinungsformen der Armut. Nicht mehr nur der materielle Aspekt, sondern immer gleichzeitig auch der psycho-soziale Aspekt von Armut steht im Blickpunkt. Damit beschränkt sich Soziale Arbeit nicht mehr nur auf bestimmte Gruppen, Schichten und Einkommensverhältnisse, sondern auf alle Menschen. Diese Entwicklung wurde eingeleitet mit der Übernahme der materiellen Lebensversicherung durch sozialpolitische Maßnahmen und Institutionen. Dadurch nehmen Notstände und Lernprobleme im Ganzen keineswegs ab, sondern sie verlagern sich von materiellen auf psycho-soziale Notstände bzw. Problemlagen und Bedürfnisse.

       psycho-soziale Armut

      Man kann sagen, dass die relative Bedeutung wirtschaftlicher Notstände – stellt man einen genügend langen Zeitraum in Rechnung – tendenziell abgenommen, während die Bedeutung psycho-sozialer Probleme zugenommen hat. Die Suche nach einem akzeptierten und subjektiv zufriedenstellenden Lebensstil und einer Lebensqualität wird zu einem zunehmend relevanten Problem.