Der Aufstieg der Ultra-Läufer. Adharanand Finn

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Название Der Aufstieg der Ultra-Läufer
Автор произведения Adharanand Finn
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783903183711



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verschlechternden Zustand, sein Tempo viel langsamer als während seiner unglaublichen ersten Tage, als der erste Verdacht begann aufzukommen. Nach fünf Tagen meinte Cantrell, dass er viel Respekt für Youngs Anstrengungen hätte, doch nicht davon überzeugt wäre, dass Young zu diesen Leistungen fähig war, die er in der frühen Phase des Rennens angeblich erbracht haben soll. An einer Stelle sahen The Geezers, wie Young kopfüber auf die Straße knallte und sich dabei eine Stirnverletzung zuzog. Als ihn sein Team erreichte, war sein Gesicht blutüberströmt und er war eingeschlafen. Doch er stand wieder auf und lief weiter.

      Schlussendlich musste Young seinen umstrittenen Rekordversuch nach 34 Tagen einstellen, aber nicht aufgrund der Vorwürfe, denen er sich ausgesetzt sah, sondern wegen einer gebrochenen Zehe, sowie Zellulitis – eine schmerzhafte und potenziell gefährliche Hautinfektion.

      Und es wäre auch dabei geblieben, doch mit all den Anschuldigungen, die da im Raum standen, entschloss sich der Sponsor für Youngs Rekordversuch, der Kompressionsbekleidungshersteller Skins, der Sache genauer auf den Grund zu gehen. Das Unternehmen beauftragte die beiden honorigen Sportwissenschaftler, Roger Pielke Jr. von der University of Colorado Boulder und Ross Tucker von der University of the Free State, Südafrika, Youngs GPS-Daten genauer unter die Lupe zu nehmen. Die beiden überprüften die Daten genau, sprachen mit wichtigen Zeugen und erstellten einen 110-seitigen Bericht. Das Ergebnis war vernichtend, denn der Bericht kam zu dem Schluss, dass nur wenig Zweifel daran besteht, dass Young betrogen hätte, indem er „unerlaubte Hilfe in Anspruch nahm – aller Wahrscheinlichkeit nach, indem er große Teile der Strecke in oder auf einem Fahrzeug zurücklegte“.

      Der schlagende Beweis dafür, so meinten sie, wären seine Kadenzdaten, die seine Schrittzahl pro Minute aufzeichneten. Einige Male in den ersten Tagen, noch bevor Delmotts Bericht auf letsrun.com erschienen war, zeichnete Youngs Uhr unmögliche Zeiten und Zahlen auf, wie etwa eine Schrittlänge von bisweilen über 40 Meter. Nach dem Posting auf letsrun.com und dem damit erhöhten öffentlichen Interesse normalisierten sich sein Tempo und die Schrittlänge wieder. Diese Veränderung und die Tatsache, dass sie genau mit der plötzlichen genaueren Kontrolle zusammenfiel, ließe auch einen möglichen Defekt der verwendeten Uhren ausschließen, meinten sie weiter.

      Young stritt weiterhin alles ab, konnte aber keine Erklärung für die Kadenzdaten erbringen. Skins folgte dem Bericht von Pielke und Tucker, kappte alle Verbindungen mit Young und gab an, dass das Unternehmen „äußerst enttäuscht“ wäre.

      Es ist eine traurige Geschichte, doch Young ist bei weitem nicht der einzige, der mit unwahrscheinlichen und im Endeffekt unglaubwürdigen Höchstleistungen beim Ultra-Laufen angab. 2018 gelang es der ehemaligen Schönheitskönigin, Maude Gorman aus Massachusetts, sich sogar einen Platz im US-Team für die Skyrunning-Weltmeisterschaft zu erschwindeln. Wiederum waren es Online-Detektive, die die Diskrepanzen in ihren Resultaten aufdeckten und beweisen konnten, dass sie bei einigen ihrer Rennen eine Abkürzung genommen hatte. Damit war Gorman gezwungen, einige ihrer gewonnenen Preise zurückzugeben, und sie wurde aus dem Nationalteam ausgeschlossen.

      Einer der jüngsten Betrugsfälle ist der von Kelly Agnew, dessen starke Ergebnisse in einer Serie von Ultra-Marathons in den USA Verdacht erregten – einschließlich eines Sieges bei einem 48-Stunden-Lauf mit einem Vorsprung von 55 Meilen (ca. 88 km), obwohl er bereits vor dem Ablauf der Zeit aufgab.

      Nachdem ihnen seine tollen Ergebnisse verdächtig vorkamen, entschlossen sich die Organisatoren bei einem weiteren 48-Stunden-Rennen in Arizona, das in Runden auf einer Schleife von einer Meile ausgetragen wurde, Agnew besonders im Auge zu behalten. Einer der Offiziellen sah, wie Agnew mitten in der Nacht am Ende einer Runde die Zeitnahmematte überquerte und gleich danach ein Mobilklo neben dem Weg aufsuchte, aus dem er nach sieben Minuten herauskam und die Zeitnahmematte noch einmal überquerte – und somit eine weitere Runde registrierte, ohne sie jemals gelaufen zu sein.

      Die Frage, die jeder stellt, der solche Geschichten hört, ist folgende: Warum macht jemand so etwas? Das Gefühl innerhalb der Ultra-Marathon-Gemeinschaft ist von Skepsis geprägt. Ultra-Running sieht sich gerne als Sport der Ehrlichen, Menschen, die gewillt sind, sich Stunde um Stunde und sogar tagelang bis zum Äußersten zu pushen, und das alles für keine greifbare Belohnung. Sie tun es, weil sie ihre Grenzen finden möchten, etwas über sich selbst herausfinden wollen, erfahren wollen, wie es sich anfühlt, ein erfülltes Leben zu leben. Warum würde jemand deswegen betrügen? Du würdest dich ja eigentlich nur selbst betrügen. Wie kannst du da mit dir leben? Es gibt so gut wie keine Preisgelder, keine TV-Berichterstattung, keine schmeichelnden Fans. Das ergibt doch keinen Sinn.

      „Hört sich wie etwas, das Mr. Bean tun würde, an“, meint Marietta, als ich ihr von Agnews Nummer mit dem Mobilklo erzähle. Ja, ich kann mir vorstellen, wie Mr. Bean so etwas macht. Mr. Bean ist deswegen so lustig, da wir alle unsere Mängel in ihm wiedererkennen – stark übertrieben natürlich, aber nachvollziehbar. Vielleicht ist da in einigen etwas, dieser innere Mr. Bean, dieser Zwang, es sich leicht zu machen, auch in den trivialsten und unwichtigsten Situationen gut auszusehen, sogar wenn nur ein Zuseher da ist, stark genug, um sie dazu zu veranlassen, zu betrügen.

      Heutzutage machen wir nicht wirklich etwas für die Leute direkt um uns herum. Wir tun es für das virtuelle Publikum, von dem wir uns vorstellen, dass es vorm Laptop sitzt und geduldig auf unseren nächsten Streich wartet, uns beklatscht und uns einen Daumen nach oben gibt, wenn wir es mit unseren Leistungen beeindrucken. Einen Ultra-Marathon zu laufen ist ein todsicherer Weg, einen solchen Eindruck in den sozialen Medien zu hinterlassen. Ein Sieg, eine vordere Platzierung oder eine Rekordzeit und schon überschlagen sich die Dinge.

      Laufe 370 Marathons in einem Jahr, laufe quer durch die USA und du wirst sehen, wie sich die Belohnungen plötzlich ganz schnell multiplizieren, wenn sich die Leute einloggen und Nachrichten posten und dir sagen, welche Inspiration du für sie bist und dass du ihr Leben verändert hast. Mr. Beans Kopf würde explodieren.

      Um zu verstehen, warum jemand in einem eher unbedeutenden Rennen betrügt, beschloss Runner’s-World-Journalist Duncan Craig bei einem 5-km-Parklauf zu mogeln, indem er einen großen Teil des Kurses abkürzen würde. Es war natürlich nur Mogeln im Kleinformat und er ließ sein Ergebnis auch gleich darauf annullieren. Doch vor dem Rennen fing er seine Emotionen recht nett ein, als er über die neue Bestzeit, die er bald laufen würde, schrieb: „In meinem Netzwerk in den sozialen Medien gibt es viele Läufer, schnelle Läufer. Warte nur bis sie rauskriegen, was ich da tue.“

      Die Wissenschaft, die hinter dem Betrügen steckt, ist faszinierend und es gab schon viele Studien über die Jahre, die zeigten, dass – unter bestimmten Umständen und wenn man die Chance hat damit durchzukommen – die meisten von uns schummeln würden. Laut den Wissenschaftlern sind die meisten Umstände, die uns dazu verleiten zu mogeln, zum Beispiel Dunkelheit, Müdigkeit und Schlafentzug, keine Unbekannten unter Ultra-Läufern. Das Fehlen von Streckenmarkierungen, Rennmarschalls und strikteren Rennkontrollen bei kleineren Ultras bedeutet auch, dass es einfacher als in vielen anderen Sportarten ist, damit durchzukommen.

      Dr. Dan Ariely von der Duke University in North Carolina sagt, dass wir betrügen werden, wenn wir es vor uns selbst rechtfertigen können. In seinem Buch The Truth About Dishonesty schreibt er: „Wir sind von Natur aus Kreaturen, die Geschichten erzählen und wir erzählen uns Geschichte über Geschichte, bis wir endlich eine Ausrede gefunden haben, die uns zufrieden stellt und sich vernünftig genug anhört, um sie zu glauben.“

      Mogeln, so sagen Psychologen, ist besonders einfach zu rechtfertigen, wenn man Situationen so dreht, dass man sich selbst als Opfer einer Ungerechtigkeit sieht. Dann sorgt man ja nur für gleiche Verhältnisse; du betrügst also nicht mehr, du stellst nur wieder faire Bedingungen her.

      Elite-Leichtathletiktrainer Steve Magness schreibt dazu auf seinem Blog Die Wissenschaft des Laufens: „Wir alle betrügen. Aber wie weit können wir es treiben und uns noch selbst einreden, dass wir anständige Menschen sind? Es gibt nur ganz wenige Menschen unter uns, die von sich selbst als schlechte Person denken.“

      „Denken wir doch an Dopingbetrüger wie Lance Armstrong. Bis zum Schluss wollte er nicht wirklich einsehen, dass er betrogen