Название | Bildung und Glück |
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Автор произведения | Micha Brumlik |
Жанр | Философия |
Серия | |
Издательство | Философия |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783863936136 |
Im Werk von Ellen Key finden wir eine Lektüre und Entfaltung von Nietzsches Ideen, die die Fruchtbarkeit dieses Denkens sehr viel deutlicher werden lassen. Ellen Key, daran ist ein redlicher Zweifel kaum möglich, war eine Darwinistin, die den „Kampf ums Dasein“ sublimieren wollte und die bedauert, daß es bisher nicht gelungen sei, „dem Kampfe ums Dasein edlere Formen zu verleihen“25 Key war fest von der Unabgeschlossenheit, vom fortwährenden Werden des menschlichen Wesens überzeugt26 und zog aus dem Faktum der Evolution den Schluß, daß dort, wo es bereits eine Höherentwicklung gegeben hat, auch eine weitere Höherentwicklung möglich, wenn nicht gar wünschenswert sei27 Es ist diese, von Darwin und Galton unterschiedlich verstandene Evolutionstheorie, die in Verbindung mit einer Tugendethik, d. h. einer Ethik, die als ihr höchstes Kriterium die Heranbildung edler Charaktere sieht,28 die Pädagogik zur Wissenschaft macht: „Erst wenn man die Erziehung des Kindes auf die Gewißheit gründet, daß Fehler nicht versöhnt oder ausgelöscht werden können, sondern immer ihre Folge haben müssen, aber gleichzeitig auf die Gewißheit, daß sie in einer fortgesetzten Evolution umgewandelt werden können, durch langsame Anpassung an die umgebenden Verhältnisse, erst dann wird die Erziehung anfangen, Wissenschaft, Kunst zu werden.“29
Damit zielt Ellen Key auf eine durch wissenschaftliche Erziehungskunst gesteuerte Evolution der Gattung, die aber nicht – wie man meinen könnte – Entwicklung als Selbstzweck, als Religion30 ansieht, sondern als Unterpfand des Glücks: „Für das Kind wie für den Erwachsenen gilt Goethes Wort, daß Glück die Entwicklung unserer Fähigkeiten ist.“31 „Unsere Fähigkeiten“ jedoch äußern sich im kindlichen Egozentrismus und Egoismus und das heißt auch in seinen Gefühlen, die für Key ohnehin der deutlichste Indikator für Individualität sind32 Das Gesetz der Individuierung gilt so als Gesetz der kleinen Abweichung vom Typus, als Erfüllung der gattungsbezo- genen Anpassungsleistung durch die Freigabe und Förderung individueller Macht33 Key verbindet schließlich – in einer systematisch überhaupt nicht, aber praktisch überzeugenden Weise – die antike Tugendethik der Heranbildung edler, glücksfähiger und glücklicher Charaktere mit einem ganz und gar modernen Gedanken: der Überzeugung vom Wert des Neuen als eines Selbstzwecks. „Die noch weiterlebenden Instinkte des Affen“, so führt sie in einer anthropologischen Nebenbemerkung aus, „verdoppeln beim Menschen die Wirkung des Erblichkeitsgesetzes, und der Konservativismus ist daher bis auf weiteres in der Menschenwelt stärker als das Streben, neue Arten hervorzubringen. Aber dieses letztere ist das Wertvollste.“34
Es dürfte deutlich geworden sein, wie weit sich Key in den Spuren Nietzsches von jeder herkömmlichen normativen Pädagogik entfernt und sich zwei Leitvorstellungen verschrieben hat, die von Christentum und Kantianismus gleichermaßen entfernt sind, ohne doch bedacht zu haben, ob und inwieweit diese Leitvorstellungen miteinander verträglich sind: hier das individuelle Glück, dort das Entstehen neuer Arten von Menschen. Ein Rückblick auf die klassischen, die antiken Theorien des Glücks, von Platon über Aristoteles bis hin zu den Epikuräern und Stoikern, würde sofort ergeben, daß sie alle von einer mehr oder minder konstanten Natur des Menschen und seiner Stellung im Kosmos ausgegangen sind und daher „Glück“ als eine Erfüllung menschlicher Wesensmöglichkeiten, nicht aber deren Neuerschaffung oder Neuerfindung verstehen. Auch die Ethiken des christlichen Abendlandes vertreten diese Auffassung, und noch Immanuel Kant hängt ihr in Teilen an. Sogar die nachidealistische Philosophie, namentlich bei dem christlichen Philosophen Kierkegaard und dem Aristoteliker Marx, zehrt von der Annahme einer gegebenen menschlichen Natur, hier in der Annahme ihrer konstitutiven Mangelhaftigkeit und Sündhaftigkeit, dort im Vertrauen auf ihre durch Praxis erreichbare Perfektibilität. Es war in der Tat erst Friedrich Nietzsche, der dieses – seit der Antike auch das Nachdenken über die Erziehung dominierende – Deutungsmuster außer Kraft gesetzt hat: An die Stelle eines Erfüllens vorgegebener und beschreibbarer Möglichkeiten des Menschen tritt jetzt der Gedanke seiner Neuerschaffung und mehr oder minder beliebigen Plastizität, eine Problematik, an der sich die philosophische Anthropologie von Scheler über Gehlen bis zu Plessner, von Mead über Foucault bis zu Judith Butler noch heute abarbeitet. Tatsächlich liegt die Exposition des Problems bereits in Immanuel Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht mit all seinen Dilemmata vor. Die Modernität dieser Exposition besteht zum einen in der schroffen und strikten Zurückweisung einer jeden transzendenten Sinnbestimmung des menschlichen Lebens und zum anderen im ebenso konsequenten Blick auf die nur naturwissenschaftlich leistbare Erklärung dieses Lebewesens: „Eine Lehre von der Kenntnis des Menschen, systematisch abgefaßt (Anthropologie), kann es entweder in physiologischer oder in pragmatischer Hinsicht sein. – Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er als frei handelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll.“35
Nietzsche beerbt Kant in systematischer Hinsicht darin, daß er – wie anfangs angedeutet – Kants Lehre vom Menschen als des Menschen Zweck in normativer Hinsicht aufgibt, in explanativer Hinsicht jedoch radikalisiert und damit alle bisherige Anthropologie auf den Kopf stellt. Indem Nietzsche eine Philosophie am „Leitfaden des Leibes“ fordert und damit die bisherige Verankerung des Selbst aus dem eng umgrenzten Bezirk des Bewußtseins löst, visiert er eine Perspektive an, in der das Geistige nur noch als die Zeichensprache des Leibes gilt. Das Streben nach Glück, das sich in dieser Perspektive auslegt, erweist sich dann als das dem Bewußtsein oftmals unzugängliche Streben des Leibes nach Höherbildung, einer Höherbildung, die nicht mehr moralischen, sondern nur noch ästhetischen Kriterien folgt. Auch auf diesem Weg folgt Key ihrem Lehrer Nietzsche: „Die neue Sittlichkeit […] nimmt Humanismus wie Evolutionismus in sich auf. Sie ist von dem monistischen Glauben an Seele und Körper als zwei Formen desselben Seins bestimmt; von der Überzeugung des Evolutionismus, daß das psycho-physische Wesen des Menschen weder gefallen noch vollkommen, doch der Vervollkommnung fähig ist: daß es bildbar ist, gerade weil es konstitutiv noch nicht fertig ist.“36
Key hatte – anders als Nietzsche – einen scharfen Blick für die intersubjektivitätsbezogenen Komponenten der menschlichen Leiblichkeit, sprich für Sexualität und Erotik. Sie hatte erkannt, daß Nietzsche von der Liebe nichts wußte, „weil er vom Weibe nichts weiß“,37 und war bemüht, seine ihrer Auffassung nach zureichende Theorie der Elternschaft und ihrer Bedeutung durch eine Theorie der Erotik zu ergänzen, die durch verantwortungsvolle Elternschaft jenseits aller konventionellen Moral und eugenische Umsicht zu einer Höherentwicklung der Menschheit führen wird. An dieser Schnittstelle konvergieren dann die beiden scheinbar widersprüchlichen Imperative individuellen Lebensglücks und gattungsbezogener Höherentwicklung und schießen zu einem neuen Glauben, einer diesseitigen Liebesreligion zusammen: „Die Bekenner dieses Glaubens wollen die geschlechtlichen Gefühle und Handlungen des einzelnen durch die Liebe bestimmen, vor allem weil sie glauben, daß das Glück des einzelnen die wesentlichste Bedingung auch für die Lebenssteigerung der Menschheit ist. Sie wollen die Erde mit Glückshungernden erfüllen, weil sie wissen, daß nur so das Erdenleben seinen innersten Willen erreicht, nämlich – in einem ganz neuen Sinne – Ewigkeitsmenschen zu bilden. Das Wort, das durch Eros Fleisch und Blut wurde und in uns lebt, ist das tiefste von allen: ‚Freude ist Vollkommenheit.‘ Wenn wir in diesem Wort Spinozas die höchste Offenbarung vom Sinn des Lebens empfangen, öffnet sich der Blick auch für den Zusammenhang des Daseins. Wir sehen ein, daß das vollkommenere