Название | Homer und Vergil im Vergleich |
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Автор произведения | Philipp Weiß |
Жанр | Документальная литература |
Серия | Classica Monacensia |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783823300137 |
Anders ist die Situation bei den Plagiatsvorwürfen, wie sie die Sammlung des Perellius Faustus (furta) enthielt. Die überlieferten Zeugnisse lassen erkennen, dass monographische Abhandlungen, in denen literarische Übernahmen oder Anleihen durch Dichter als Plagiate angegriffen wurden, erst etwa seit augusteischer Zeit entstanden. Zuvor verzeichnete man entsprechende sprachliche oder inhaltliche Parallelen, ohne einen polemischen Vorwurf damit zu verbinden. Die zwei bei Sueton genannten Titel – die furta des Perellius Faustus und die Ὁμοιότητες des Avitus – repräsentierten wohl beide Typen von Schriften. (→ Kap. 2.2.1)
Dass die systematischen Plagiatsvorwürfe gegen Dichter ein relativ spätes Phänomen sind, ist nicht nur aufgrund der überlieferten Titel anzunehmen, sondern erklärt sich auch aus der aktuellen literaturkritischen Diskussion. Schon Vergil selbst sah sich Plagiatsvorwürfen ausgesetzt. Das Bild vom Diebstahl der Keule des Herkules, das er angeblich zu seiner Verteidigung bemüht hat, lässt sich, was die zum Ausdruck gebrachte Bewertung von imitatio betrifft, in die Nähe des etwa zeitgleich von Dionysios von Halikarnassos formulierten Programms der sog. „römischen Klassizisten“ rücken. Der Plagiatsvorwurf und seine Entkräftung – wie sie etwa in der Schrift des Asconius Pedianus, aber auch schon in der Replik Vergils unternommen wurde – sind demnach zwei komplementäre Beiträge in einer Diskussion, die letztlich auf eine programmatische Aufwertung der Nachahmung hinauslief. Vergil steigt – so zeigt die spätere Rede von der imitatio als Vergiliana virtus – im Zuge dieser Diskussion geradezu zum Muster für die gelungene künstlerische Auseinandersetzung mit einem anerkannten Vorbild auf. (→ Kap. 2.2.2)
3. Seneca d.Ä., Suasoriae und Controversiae
3.1 Klassizistische imitatio-Konzeption und Plagiatsbegriff bei Seneca d.Ä.
Die kanonische Stellung Vergils war durch die frühen Plagiatsschriften nicht ernsthaft in Frage gestellt worden. Vielmehr war der Dichter der Aeneis schon vor oder bald nach seinem Tode als ein lohnenswertes Studienobjekt zum Gegenstand stilkritischer Debatten geworden, die auch im Bereich des professionellen Rhetorikunterrichts geführt wurden. Dabei dürfte es gerade seine selbstbewusste imitatio Homers gewesen sein, die das Interesse der Rhetoriklehrer auf ihn lenkte: Vergil hatte ja gewissermaßen das Problem literarischer Nachahmung selbst zum Thema gemacht, indem er mit seiner Aeneis an das in Rom seit den Neoterikern traditionelle Tabu einer offenen Homernachfolge gerührt hatte. Wer fortan in Rom über imitatio nachdachte, konnte an Vergil kaum mehr vorbei.
Der Rhetorik war es spätestens seit Isokrates ebenfalls grundsätzlich um die Problematik der Nachahmung zu tun, gründete sie ihr Ausbildungskonzept doch neben anderen Prinzipien auch auf dasjenige der μίμησις bzw. imitatio, der Nachahmung anerkannter Musterautoren zum Zweck der rednerischen Vervollkommnung.1 Wie bereits skizziert, knüpften nicht nur die Klassizisten um Dionysios von Halikarnassos an diese isokrateische Vorgabe an; die Frage nach einer angemessenen Nachahmung der literarischen Hinterlassenschaft früherer „klassischer“ Zeiten – anerkannter Redner oder Musterautoren aus dem Bereich der Historiographie, Philosophie oder Dichtung – beschäftigte die Theoretiker der Rhetorik wie der Poetik seit augusteischer Zeit eminent. Wie unterschiedlich aber noch in der frühen Kaiserzeit die Perspektiven auf den Themenkomplex der Nachahmung ausfallen konnten, wie abhängig die konkrete Einschätzung einer literarischen Anleihe vom theoretischen Horizont des Rezipienten war, und welche Rolle Vergil in diesem Zusammenhang spielen konnte, lässt sich aus den stilkritischen Urteilen im Werk Senecas d.Ä. ersehen, der in seinen Oratorum et rhetorum sententiae, divisiones, colores2 viele zentrale praktische Aspekte literarischer Kritik in der frühen Kaiserzeit berührt.
Über die Absichten, die Seneca d.Ä. mit seiner wohl unter Caligula3 zusammengestellten Schrift verfolgt, gibt er in der Vorrede zum ersten Buch der Kontroversiennachschriften Auskunft. Auf die Bitte seiner drei Söhne hin möchte er kritische Einschätzungen über die Vorträge derjenigen Deklamatoren geben, die er noch selbst als junger Mann in den Rhetorenschulen gehört hat. Um seine Ausführungen so anschaulich wie möglich zu machen, sollen zu diesem Zweck auch konkrete Beispiele aus den Übungsreden in Form von wörtlichen Zitaten beigebracht werden.4 Der Nutzen, den sich seine Söhne vom Studium der so entstandenen Sammlung erhoffen können, ist ein zweifacher. Die Beschäftigung mit den berühmten Rednern der Vergangenheit bewirkt nicht nur, wie im zweiten Teil des Abschnitts zum Ausdruck gebracht, historische Einsicht in die negative Entwicklung der Redekunst, der Seneca eine Verfallstendenz im Sinne des Dekadenzmodells5 unterstellt, sondern sie hat, gewissermaßen als positiven Ertrag, eine quantitative Ausweitung der potentiellen Vorbildautoren für den angehenden Redner zur Folge:Seneca d.Ä.contr. 1 praef. 6–7
Facitis autem, iuvenes mei, rem necessariam et utilem, quod non contenti exemplis saeculi vestri priores quoque vultis cognoscere; primum quia, quo plura exempla inspecta sunt, plus in eloquentiam proficitur. non est unus, quamvis praecipuus sit, imitandus, quia numquam par fit imitator auctori. haec rei natura est: semper citra veritatem est similitudo. deinde, ut possitis aestimare, in quantum cotidie ingenia decrescant et nescio qua iniquitate naturae eloquentia se retro tulerit. quidquid Romana facundia habet, quod insolenti Graeciae aut opponat aut praeferat, circa Ciceronem effloruit; omnia ingenia, quae lucem studiis nostris attulerunt, tunc nata sunt. in deterius deinde cotidie data res est … (Sen. contr. 1 praef. 6–7)6
Bei Dionysios von Halikarnassos war diese quantitative Ausweitung an Vorbildautoren für die Epigonen nachklassischer Zeit die Bedingung der Möglichkeit literarischen Wettstreits mit der Vergangenheit gewesen. Auch für Seneca d.Ä. gilt es gleich einem Naturgesetz, dass der nur ein Vorbild Nachahmende dieses Vorbild nicht übertreffen kann: haec rei natura est: semper citra veritatem est similitudo.7 Je mehr Vorbildautoren er aber imitiert, umso sicherer kann der rednerischen Anstrengung Erfolg prognostiziert werden: quo plura exempla inspecta sunt, plus in eloquentiam proficitur. Auch wenn sich Seneca d.Ä. verhaltener als Dionysios äußert, spricht aus diesen Worten doch ein grundsätzlicher Optimismus: Dem gegenwärtigen Missstand wäre eigentlich abzuhelfen.
Doch ist für Seneca d.Ä. nicht nur der Mangel an geeigneten zeitgenössischen Vorbildern verantwortlich für den Verfall, auch die Unfähigkeit zur Nachahmung seitens der jungen Redner ist ein Grund für den Abstieg. Statt sich ihre Vorbilder kreativ anzueignen, flüchte sich die jüngere Generation in plumpe Plagiate, weil sie nicht mehr über die notwendige geistige Disposition – hier mit dem von Cato d.Ä. repräsentierten Ideal der Einheit von rednerischer und moralischer Integrität bezeichnet – verfügt. Plagiate gelten demnach als Krisensymptome einer Zeit, die die ihr innewohnende rednerische Kraft nicht mehr aktualisieren kann:Seneca d.Ä.contr. 1 praef. 10
ite nunc et in istis vulsis atque epolitis et nusquam nisi in libidine viris quaerite oratores. merito talia habent exempla qualia ingenia. quis est qui memoriae studeat? quis est qui non dico magnis viribus sed suis placeat? sententias a disertissimis viris factas facile in tanta hominum desidia pro suis dicunt et sic sacerrimam eloquentiam, quam praestare non possunt, violare non desinunt. (Sen. contr. 1 praef. 10)
Wie schon bei Dionysios von Halikarnassos begegnen wir bei Seneca d.Ä. in den wenigen Paragraphen der ersten praefatio einem auffälligen Nebeneinander von „modernem“ imitatio-Begriff und „traditionellem“ Plagiatsvorwurf.
Wo ordnen sich die Stellungnahmen Senecas d.Ä. demnach in der zeitgenössischen Diskussion über die Nachahmung ein? So wie Seneca d.Ä. in contr. 1 praef. 6–7 das Thema behandelt, schließt seine Konzeption gelungener Nachahmung an die Forderungen an, wie sie von Autoren wie Dionysios von Halikarnassos formuliert worden waren: Die pessimistische Einschätzung über die Grenzen der imitatio einzelner ausgewählter Musterautoren in contr. 1 praef. 6 mündet in dieselbe Forderung nach einer Kombination der Vorbilder, wie sie bei Horaz mit der Biene, die ihren Honig aus zahlreichen Blüten sammelt, und bei Dionysios mit den Gleichnissen von der Bauersfrau und von Zeuxis ins Bild gebracht worden war, wo auch jeweils eine größere Zahl schöner Gegenstände der Betrachtung die Schönheit des natürlichen