Название | Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur |
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Автор произведения | Manuel Caballero González |
Жанр | Документальная литература |
Серия | Classica Monacensia |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783823300045 |
In diesem Buch werden nur die Passagen der erhaltenen Tragödien und eine allgemeine Analyse der drei fragmentarisch überlieferten Werke präsentiert, ohne eine ausführliche Untersuchung jedes Fragments.
III.1 Medea
In der berühmten Tragödie Medea (1283–1289) deutet Euripides Inos SprungSprung von den Klippe an. Diese Version unterscheidet sich grundlegend von der, welche von der Mehrheit der Quellen über dieses Ereignis präsentiert werden. Wilamowitz merkt an, was der Grund dieser Darstellung sein könnte: „Euripides Med. 1284; dabei springt sie mit beiden Kindern in das MeerMeer, wohl nur, weil Medea zwei Kinder morden wird“1. Euripides bringt Ino ins Spiel, weil er sie als Muster seiner Medea verwendet: KadmosKadmos’ Tochter tötet ebenso ihre Nachkommen, wie Ino einst ihre zwei Kinder umgebracht hat; dieses Thema aber wird etwas später analysiert. Wilamowitz’ Begründung klingt m.E. sehr vernünftig.
Der Kontext ist folgender: Der Chor der Frauen aus KorinthKorinth fleht Erde und Sonne an, dass Medea ihre verbrecherische Absicht nicht durchführe; das Schreien der Kinder verrät das tragische Geschehen; nun suchen die Frauen einen Präzendenzfall für eine solche Missetat. Wie Newton beteuert, „tragic choruses frequently allude to exempla when acts of violence occur, or are about to occur, in a play“2. Das Ziel dieser exempla ist, den dramatischen Ton der Szene zu mildern und den Zuhörern eine Verbindung zwischen der Gegenwart und dem, was früher einmal zwischen Menschen geschehen ist, zu ziehen. Mit einem Wort: Man versucht das Grauen des Erlebnisses abzuschwächen, indem die vorherigen exempla angerufen werden3. Der Text wird auf den folgenden Seiten analysiert, aber nur unter dem Gesichtspunkt, der zum Verständnis des Mythos von Athamas beiträgt.
Ino tritt in einem definitiv früheren Zeitraum als Medea auf, nämlich in einer ‚mythischen‘ Epoche4. Es ist der einzige Fall – zweimal wird μίαν emphatisch wiederholt –, den der Chor erwähnt, wenn er eine Figur andeuten will, die jemals ein solches Verbrechen gewagt hat. Diese einzige Erwähnung von Ino als unum exemplum ruft aber zweifachen Widerspruch hervor. Zunächst muss man Euripides erwidern, dass es mehrere Beispiele gibt, mit denen man Medeas Gräueltat hätte vergleichen können, wie z.B. Althaiea, Agave oder Prokne selbst, die vielleicht die Geeignetste5 für diesen Fall gewesen wäre. Man könnte dagegenhalten, dass keine dieser drei Frauen zwei Kinder getötet hat; darauf lässt sich aber antworten, dass sich der Kern des Beispiels nur auf die gottlose Tat einer mörderischen Mutter beschränken wollte. Auffällig ist auch, dass Euripides nur auf eine Frau hinweist, während die Autoren sonst zwei oder drei mythologische Figuren anzuführen pflegen, wenn sie ein exemplum setzen wollen. Newton sagt, „the suggestion therefore presents itself that the poet is suppressing other examples“6.
Wenig überzeugend sind m.E. die Gründe, die Newton als Argumente ins Feld führt, um die exklusive Erwähnung von Ino zu rechtfertigen. Es ist wenig glaubwürdig, dass Ino nach ihrem bekannten Sprung ins Meer, in Anspielung auf ihre DivinisierungDivnisierung, als dea-ex-machina vorausgeschickt wurde, um Medea im Sonnenwagen zu parodieren. Auf keinen Fall ist der KultKult der Kinder beider Heldinnen zu vergleichen, denn nur MelikertesMelikertes wird als Gott geehrt, die zwei Kinder von Medea aber in Heras Tempel in Akrea. Es ist meiner Meinung nach zweifelhaft, ob Medea ihre Kinder umbringt, um sie vor den Feinden zu beschützen; Medeas letzter Grund besteht in der Rache an JasonJason, ein Motiv, das im Fall von Ino nie erscheint, wenigstens nicht in allen uns bekannten Überlieferungen7. Ein anderer Unterschied liegt darin, dass Ino stirbt, indem sie tötet, Medea aber nicht ums Leben kommt, sondern feige der Begegnung mit Jason flieht.
Der Anlass für Inos Erwähnung durch Euripides befindet sich am Ende des exempli (Vers 1289): δυοῖν τε παίδοιν ξυνθανοῦσ’ ἀπόλλυται. Jouan / Van Looy8 glauben, „le parallélisme parfait9 avec le double infanticide de Médée“ sei eine von Euripides für diesen Fall erfundene Begründung. Im Gegensatz zu dieser Behauptung erklärt jedoch Page: „Eur.’s innovation here is so slight, and our ignorance so great, that no theory of interpolation here can be seriously entertained for a moment“10.
Mit den Worten μανεῖσαν ἐκ θεῶν wird zum ersten Mal auf Inos verwirrten Zustand hingewiesen. Diese erste allgemeine Bezeichnung11 wird sofort erklärt: HeraHera hat ihr den WahnsinnWahnsinn geschickt. Euripides benutzt ‚physische‘ Metaphern, um den Zustand des Irrsinns indirekt anzuführen: Das Haus kann ihr Herz darstellen, wo ihr Verständnis beherbergt wird12, sie selbst die Vernunft, die umherschweifenden Wege, die krummen Spuren, die nicht den üblichen Gedankengängen entsprechen. So versteht es auch Page: „ἄλῃ: metaph.‘distraction’,‘wandering of mind’, L. & S.9“13, und vor allem Padel, wenn sie über das Herumirren spricht: „Inside is sane. Being «out» of home and all it stands for (mind, right place) is mad. Mad is outside, other, foreign“14. Zweifellos wird ein physisches Herumirren15 nicht ausgeschlossen: Euripides kann sich auf beide Begriffe beziehen. Dieser Text konnte Nonnos (D. IX 242–279Nonnos von PanopolisD. IX 242–279) seine wunderschöne Beschreibung eingeben, wie Ino auf der Suche nach DionysosDionysos als eine Wahnsinnige durch die Berge irrt und den Parnass erreicht, wo ApollonApollon sie in einen erholsamen Schlaf wiegt.
In der Tat ist dieser Zug von WahnsinnWahnsinn derjenige, den Prof. Hose als Hauptunterschied zwischen dem exemplum (Inos Mord) und der damit verglichenen Wirklichkeit (Medeas Mord) sieht: Medea tötet ihre Kinder nicht in einem Anfall von Wahnsinn, wie Ino es machte16: „Das ParadigmaParadigma greift also nicht, sondern dient statt als Parallele – und damit als Relativierung – des Kindermordes als Kontrast. Die Unerhörtheit und das Entsetzliche der Mordtat tritt damit noch stärker hervor“17. Dieser Unterschied zwischen Medea und Ino wird auch von McHardy betont: „Here, however, an important distinction is apparent. Whereas Ino is described as driven mad by the gods … Euripides’ Medea is sane and knows what she is doing“18. Das heißt, dass die Verschiedenheit beider Heldinnen im WahnsinnWahnsinn und der Leidenschaft besteht, die Übereinstimmung aber im Mord an ihren beiden Kindern19.
McHardy sieht eine andere Verbindung zwischen Kindesmord und Wahnsinn; er schlägt deshalb vor, „that through the influence of ideas relating to Dionysiac cult (especially maenadism) the portrayal of mothers killing their own children was deemed particularly suitable for tragic performances“20; viele Versionen von Kindern, die von ihren Müttern absichtlich getötet wurden, gehören tatsächlich in diesen Zeitraum, weil die vorherigen Traditionen entweder den Mord aus der Hand der Mutter nicht erwähnen oder auf eine unabsichtliche Tötung durch die Mutter hinweisen. Ino stirbt, indem sie nicht nur den trübsinnigen Melikertes, sondern auch ihre beiden von Athamas empfangenen Kinder umbringt. Dieses Verbrechen wird von Euripides als δυσσεβής betrachtet.
Interessant ist auch die Frage, warum dieser Tragiker auf die I-L-M-Version des Mythos von Athamas hindeutet. Gantz glaubt – genau wie Wilamowitz –, dass Euripides’ Version in seiner Medea leicht die Tradition des Mythos von Athamas „for the sake of a better parallel with Medea“21 ändert. Euripides aber ‚betrügt‘ feinsinnig. Medea ist auf die neue Frau von Jason und auf die zukünftige Nachkommenschaft sehr einfersüchtig, aber dieser Fall entspricht der I-L-M-Version überhaupt nicht, sondern berührt nur tangential die I-P-H-Version. Medea tötet ja ihre Kinder, aber sie bestraft auch die neue Frau von JasonJason; Ino bestraft jedoch niemanden in der I-L-M-Version: Auf jeden Fall wird sie mit dem Wahnsinn bestraft. Euripides wechselt von einer Figur (Medea), die mit der neuen Frau ihres Mannes Probleme hat, zu einer Figur (Ino), die irrsinnig wird und ihre Kinder in diesem Zustand tötet. Die Ähnlichkeit zwischen Medea und Ino ist tatsächlich minimal. Wenn Hyg. Fab. IVHyginusFab. IV die Handlung Euripides’ Ino spiegelt – wie es m.E. zutrifft – und diese Tragödie älter ist als seine Medea, konnte das Publikum den Vergleich von Med.EuripidesMed. 1282–1289 1282–1289 überhaupt nicht verstehen.