Beziehungsweisen. Elazar Benyoëtz

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Название Beziehungsweisen
Автор произведения Elazar Benyoëtz
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783772001093



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Schwester Otto F. Walter, SiljaWalters; vgl. Ulrike Wolitz, UlrikeWolitz; siehe das Verzeichnis der Briefpartner(innen)

      ** Zärtlichkeit und Schmerz. Notizen. 2. Auflage. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1979

      An Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan, 30. Dezember 2015 Nr. 100

      Ich säumte lange mit diesem Brief, der zu einem Buch auszuwachsen drohte. Dann kam ich (bei mir) ins Gespräch mit Marti, KurtMarti, und das Schreiben erübrigte sich. Danach gab ichs auch auf: Was soll ich ihn mit Schriftzügen überfahren. Nun wollte ich ihm doch einen Gruß schicken, einen kleinen Dank aus der Verspätung heraus und aus dem Land seiner Bibel. Zum Neujahr erreicht es ihn nicht mehr, vielleicht über Dich aber schneller, jedenfalls sicherer. In den Neujahrspostsäcken gingen diese Zeilen für lange unter. Auf die Unterschrift kommt es sowieso nicht (mehr) an.

      Wenn Du kannst, lese ihm die Zeilen oder lass sie ihm zukommen auf einem der kurzen Wege, die Du kennst.

      30.12.2015

      Lieber Dichter, verehrter Herr Marti, KurtMarti,

      jede Zeit hat ihre Verspätung.* Der Satz könnte noch zu KoheletKohelet gehören, den Sie so lieben wie ich. Mit Ihrem Buch über ihn**, mit Ihrer Übersetzung seines Buches, habe ich meine – eben verspätete – Marti, KurtMarti-Lektüre begonnen. So sind Ihre Bücher – mir rührend herzlich von Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan geschenkt – eine Erinnerung nach vorn. Wo immer ich aufschlage, bin ich mittendrin. Marti, KurtMarti ist eine Stadt, wohnlich, für ein gutes Leben eingerichtet, das aber ehrlich verdient werden muss, wenn man sein Gesicht in der Stadt zeigen will. Es zeigt sich nicht in Marti, KurtMarti, es muss ein jeder sich zeigen können. Ich weile seit 2 Monaten in Marti, KurtMarti, lerne alle Quer-, aber auch alle Kreuzverbindungen.

      Habe viele Bekannte schon, darunter alte und sehr alte, wie Ihren Freund Rainer Brambach, RainerBrambach, den ich in einem Buch zitiere, und zwar aus dem schmalen Band „Tagwerk“***, den Sie gerade aus dem Regal ziehen, da Sie vom Tode Brambach, RainerBrambach, RainerBrambachs hören, wobei – wie immer bei Ihnen, wenn Sie ein Buch aus dem Regel hervorholen – ein Zeitungsausschnitt herausrutscht. Eine schöne, mir vertraute, nicht ganz „gesunde“ Gepflogenheit, weil sie dem Buch nicht bekommt. Zeitungspapier, zwischen Buchseiten gepresst, hinterlässt Spuren. Nun gehören aber auch die eingefalteten Zeitungsauschnitte zu Ihrer Geschichte mit dem jeweiligen Buch. Man sieht Sie und sieht Ihnen zu, vor dem Regal stehend: Erinnerungen zusammenrufen, Gedanken sammeln, die Worte denkmalend. Etwas will heraus, etwas zum Stehen kommen. In Marti, KurtMarti ist gut spazieren, und Kurt Marti, KurtMarti begleite ich gern durch seine Stadt, in der er nie das Sagen hatte****, aber die nicht zu übersehende Unbeirrbarkeit in Wort und Schrift und Bild. Das Tintenfass gab alle Tropfen in Königsblau her, federführend soll ein anderer werden, doch wo nimmt man einen Pfarrer, der Gedichte spricht und nicht die Leviten liest. Vielleicht machen wir im nächsten Jahr noch einen kleinen Ausflug in Marti, KurtMarti oder mit Ihnen, bei Ihnen.

      * Am 23. Oktober 2015 hatte sich eine persönliche Begegnung von E. B. mit dem hochbetagten Schriftsteller-Kollegen Kurt Marti, KurtMarti (1921–2017) ergeben.

      ** Kurt Marti, KurtMarti: Prediger Salomo: Weisheit inmitten der Globalisierung. Stuttgart: Radius 2002; vgl. Variationen über ein verlorenes Thema, S. 153f.

      *** Anm. EB: Brambach, RainerBrambachs „Tagwerk“ ist 1959 bei Fretz & Wasmuth in der Akazienreihe erschienen, in der sollte auch ein Gedichtband von mir, mit einem Vorwort von Margarete Susman, MargareteSusman, erscheinen, wozu es aber nicht gekommen ist. Als Muster wurde mir Brambach, RainerBrambachs „Tagwerk“ geschickt, das mir bis heute lieb geblieben ist, das Zitat daraus lautet: „Ausgesungen ist das Miserere, / nichts als Schnee liegt auf dem leeren Dach“.

      **** Kurt Marti, KurtMarti war von 1961 bis 1983 Pfarrer an der Nydeggkirche in Bern. Er engagierte sich im Kampf gegen Atomwaffen und die US-Intervention in Vietnam. 1972 verweigerte ihm der Regierungsrat des Kantons Bern aus politischen Gründen eine Professur für Homiletik an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Bern.

      An Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan, 1. Januar 2016 Nr. 101

      Marti, KurtMarti legt keinen Wert darauf, groß gedacht zu haben. Das zeigt sich in seinem Willen, kleinzuschreiben. Keiner Erscheinung abhold, zu Schattierungen neigend, ist ihm – wie einst dem Prediger Salomo – das Licht das Süße. Er kommt auf Gott nicht zu sprechen; nicht dafür wird er bezahlt, doch darum ist er Dichter geworden. Gott spricht, wenn wir zuhören. „Gott ist immer noch, nun auch immer wieder das Wunder“ (Spätsätze)*. Im Zurückhalten wie im Zuschlagen – der Prediger als Gentleman. Er lässt keinen sitzen, keinen fahren, läuft nicht mit und bleibt bei sich nicht stehen: Zeitgenosse rundherum und allerwegs. Dies zu bleiben, ist seine Aufgabe. Ob Marti, KurtMarti Aphoristiker ist? Er ist es als Prediger, als Prediger aber doch lieber Dichter. Dahin wollte er, dahin gelangte er, unbeirrbar und bibelfest. Ich kenne kein Aphorismenbuch von ihm, nur einzelne Aphorismen aus Friedemann Spicker, FriedemannSpickers Sammlung bei Reclam**, sie sind nicht überragend.

      Kurt Marti, KurtMarti, Heilige Vergänglichkeit. Spätsätze

      Das steigende Alter,

      die zurückgelassenen Jahre.

      Was bleibt einem Alten,

      der seine Gedanken hinter sich hat

      Im Alter sind auch die Gedanken nur noch Erinnerungen, eingezimmert, ausgeklammert. Die Lust zum Erwachen – auf null gesenkt. Spätsätze – Krümel; man glaubt ihm die Krümel, nimmt sie ihm ab, nicht mehr in den Mund. Die Unheimlichkeiten eines Altersheims sind nicht denkwürdig. Hier sitzen wir, im Altersheim, bei ihm, und freuen uns, wenn er ein Wort fallen lässt oder einwirft. Aus dem Irgendwo und Irgendwann seines Lebens herangedacht oder der Zigarette erzählt, die ihm zur Konzentration verhilft. Seine Gäste sind gemeint und dürfen mithören. Sie werden gehen, die Zigaretten bleiben. Er war noch keine 90, als er seine Spätsätze herausgab: Man sieht dem Buch kein Denken an. Noch ist alles kurz gesagt, doch nicht kürzer. Es fällt ihm schwer, die Silben zu zählen, die Längen zu messen. Er erzählt sich seine Sätze. Die Fragen, die er sich stellt, warten nicht auf Antwort; Warten ist die Antwort; Abwarten. Das Buch – Notizen eines altersschwachen Menschen, der poetisch anständig und fest im Leben stand, ganz im Leben: mit Weib und Wein und Bibel, die Buchstaben fest im Blick, in guter Stimmung auch sie; Prophetisches dämpfend, Gott selbst allein ist das Wunder. Was er im Altersheim denkt, ist nicht mehr wichtig, wichtig ist die – „Schlimme Entdeckung: Ich kann nicht mehr pfeifen“. Und: „Im Licht der langsam entgleitenden Abendsonne wird der Zigarettenrauch märchenhaft blau“. Sein letztes Glaubensbekenntnis:

      „Ihm, JesusJesus, glaube ich Gott“. Das ist der letzte, würdige, aufrechte Marti, KurtMarti. Dazu gehört, dass er nicht Christus sagt. (Den Christus hat ihm PaulusPaulus verdorben, siehe S. 34) Seine Leser sind jenseits der Straße und wie hinterm Glas; sie hören ihn nicht, wenn er seine Zigarette raucht und nicht aus der Hand gibt. „Im Licht der langsam entgleitenden Abendsonne wird der Zigarettenrauch märchenhaft blau.“ Der blaue Zigarettenrauch spricht für ihn, das Märchenhafte ist auf keinem dieser Blätter zu finden. Es ging im Leben auf und verraucht nicht.

      * Kurt Marti: Heilige Vergänglichkeit. Spätsätze. Stuttgart: Radius 2010

      ** Friedemann Spicker, FriedemannSpicker (Hg.): Deutsche Aphorismen. Stuttgart: Reclam 2012 (RUB 18695), S. 242f.

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