Название | Die Freiheit leben |
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Автор произведения | Frithjof Bergmann |
Жанр | Сделай Сам |
Серия | |
Издательство | Сделай Сам |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867813648 |
Und das trifft auf Dostojewskijs gedemütigten, boshaften, unproduktiven kleinen Beamten zu. In allen möglichen Situationen gibt ihm seine Vernunft solide Ratschläge: sich nicht in die Abendgesellschaft seiner Freunde zu drängen, wo er unerwünscht ist, wo er auf groteske Weise fehl am Platz wäre, peinlich und die Zielscheibe zahlloser Witze; seine fortgesetzten Überlegungen aufzugeben, wie er sich an dem Offizier rächen könnte, der ihn im Billardsalon „in seine Schranken verwiesen“ hat. Aber es ist immer dasselbe. Er erlebt diese „Vernünftigkeit“ als einen weiteren Zügel, der ihm angelegt werden soll (im Grunde die niederträchtigste aller Fesseln, denn sie ist der Feind im eigenen Lager); und so hört er ihr fasziniert zu, rennt dann jedoch mit aller Kraft gegen sie an, durchbricht sie und tut genau das, vor dem er gewarnt worden ist. In seiner Sicht der Dinge sind diese rationalen Ratschläge letztendlich nicht seine Fürsprecher. Sie verkünden das Interesse der Gesellschaft oder etwas noch Vageres, die Urteilssprüche von Recht und Ordnung. Mächte, die ihn überwältigen, die seine Individualität auslöschen wollen, sprechen zu ihm mit einer Stimme, die als seine eigene getarnt ist. Damit sind sie Diktate und Zwangsmaßnahmen, die nicht von ihm ausgehen, sondern ihm aufgedrängt und aufgezwungen werden. Sie zu befolgen heißt, immer noch an der Nase herumgeführt zu werden. Seine Vernunft kann ihm höchstens zeigen, welche unpersönlichen Überlegungen sich wie beeinflussen, gegenseitig aufheben oder die Oberhand behalten. Würde er im Einklang mit ihr handeln, so würde er nur ihre neutralen und gefühllosen Schlussfolgerungen ausführen. Er wäre weiterhin nichts als anonyme Passivität, eine träge Masse, die sich dem Druck beugt.
Es wäre falsch, die Erfahrung des Untergrundmenschen als bizarr und unglaubhaft einzustufen und zu meinen, etwas so Seltsames könnte in Bezug auf das Normale und Vertraute kaum aussagekräftig sein. Im Gegenteil: Es geht gerade darum, dass er auf eine ganz ausgeprägte Art und Weise ein Syndrom verkörpert, das in abgeschwächter Form jeder von uns kennt und das alltäglich, ja trivial geworden ist. Eine sehr alltägliche Situation, in der auch wir unser Denken als einen objektiven Prozess erleben, der außerhalb von uns stattfindet, ereignet sich beispielsweise, wenn wir nach einer Party oder einer Prüfung wach liegen und nicht schlafen können, weil jetzt, um drei Uhr morgens, unser Geist mit all den schlagfertigen Erwiderungen und geistreichen Antworten aufwartet, die er uns vorher vorenthielt. Wenn unsere Gedanken, verliebt in ihre eigene Produktivität, immer aufgeregter weiterplappern und es auf vier Uhr zugeht, dann ist es nur natürlich, wenn wir uns gegen sie stellen und schimpfen: „Still jetzt!“ Bald könnten sie auch von einem Plattenspieler unterm Bett kommen, der immer weiterläuft, und während das Geschwätz zu verebben scheint, schlafen wir vielleicht ein.
Extreme Form
einer alltäglichen Erfahrung
In so einer Nacht erfahren auch wir unsere Gedanken als Ereignisse, die wir beobachten, die in einer gewissen Distanz stattzufinden scheinen und die im Grunde nicht von uns selbst gedacht werden. Und das ist keineswegs ungewöhnlich oder seltsam. Etwas ganz Ähnliches passiert jedes Mal, wenn wir Schwierigkeiten haben, uns zu konzentrieren. Auch dann scheinen unsere Gedanken ihre eigenen Wege zu gehen und nicht unserer Kontrolle zu unterliegen.
Weitere Beispiele
Aber es gibt auch extremere und einprägsamere Fälle: Nehmen wir die letzten Sekunden, bevor Sie zum ersten Mal mit dem Fallschirm aus einem Flugzeug abspringen. Sie haben jede Bewegung viele Male geübt und schon vor Tagen den Entschluss gefasst, nicht im letzten Moment noch einen Rückzieher zu machen, und alle wahrscheinlichen psychischen Reaktionen sind vorher schon einmal durchgegangen worden. Wenn Ihr Geist, wie vorauszusehen, in den letzten Minuten des Anfluges wild flattert wie ein verängstigter Vogel, dann distanzieren Sie sich vielleicht auch von ihm. Vielleicht hören Sie ihm ungläubig und ungerührt kurz zu, aber dann schließen Sie die Tür seiner kleinen Zelle und begeben sich in die Obhut Ihres Körpers, damit dessen trainierte Reflexe das Kommando übernehmen können. Sie springen, fühlen, wie Sie fallen, und kommen erst wieder zu Ihrem Geist zurück, wenn Sie mit einem dumpfen Geräusch landen.
Betrachten wir zwei weitere Beispiele: Sie schieben Ihren Einkaufswagen durch den Supermarkt, müde von einem anstrengenden Tag, und hartnäckig dudelt in Ihrem Kopf immer wieder der Werbespruch „Coke macht mehr draus“, bis Sie sich, zermürbt, plötzlich vor dem Kühlregal wiederfinden und bereits nach der entsprechenden Dose greifen. Oder, um es noch klarer zu machen: Stellen Sie sich vor, Sie wären hypnotisiert worden und führten jetzt nach dem Erwachen den Befehl aus, sechs Gläser Wasser hintereinander zu trinken, und nehmen Sie dabei an, man habe Sie nur zum Gedanken an diese Handlung aufgefordert und nicht, tatsächlich durstig zu sein.
Damit sollte die wesentliche Parallele deutlich hervortreten. In beiden Situationen würden Sie – wie der Mann aus dem Untergrund – Ihre Gedanken nicht als welche erleben, die zur Gänze von Ihnen selbst stammen, und Sie würden auch erkennen – ebenfalls wie der Mann aus dem Untergrund –, dass Sie „gegen sie“ handeln müssten, um frei zu sein.
Eine weitere Parallele zur extremen Auffassung des Untergrundmenschen von der Freiheit findet sich in einer Szene des Films über das Leben von T. E. Lawrence (Lawrence von Arabien)6 Sie kommt im letzten Drittel des Films vor, als Lawrence bereits eine kleine, aber schlagkräftige arabische Armee kommandiert, die schon eine lange Reihe glänzender Waffentaten vorzuweisen hat. Nach einem momentanen Rückschlag ist Lawrence dabei, eine größere, gut geplante Unternehmung vorzubereiten, die einen Sieg über die Türken und seinen Männern Ruhm und Beute verspricht. Er braucht jedoch mehr Truppen, und die Szene schildert seine Unterredung mit einem stolzen Stammesführer. In ihrem Verlauf trägt Lawrence dem Häuptling ein Argument nach dem anderen vor: „Dein Ruhm wird sich überall verbreiten, wenn du dich mir anschließt. Wir werden viel Geld machen. Das ist die Chance, mit den Türken abzurechnen, auf die du so lange gewartet hast. Zusammen werden wir dein Volk aus der Knechtschaft herausführen. Wir werden sie aus ihrem Untertanendasein befreien. Du kannst der Gründervater einer neuen, stolzen Nation sein.“ Unnahbar und ungerührt bleibt der Araber sitzen. Verächtlich schüttelt er bei jedem dieser Gründe den Kopf. Aber er weiß sehr gut, wie stichhaltig sie sind, und er spürt es. Seine Geste ist eine Weigerung, eine Abwehr; im Grunde zeigt sie seine Entschlossenheit, sich ihrem Gewicht nicht zu beugen. Schließlich ist Lawrence’ Arsenal erschöpft. Er hat jeden Grund angeführt, und jeder ist mit demselben Kopfschütteln beantwortet worden. Nun schweigen beide Männer, bis Lawrence kurz davor ist, sich zu erheben und knapp zu verabschieden. Da endlich spricht der Häuptling: „Ich schließe mich dir an“, sagt er, „aber nicht wegen des Ruhms, nicht wegen des Geldes; nicht einmal wegen meines Volkes. Nicht aus irgendeinem der Gründe, die du aufgezählt hast. Ich tue es, aber nur, weil es mir gerade in den Sinn kommt.“ Dieser Mann handelt im Grunde nicht gegen, sondern gemäß der Vernunft. Und doch will er das bemänteln, es als puren Zufall hinstellen. Wenn sein Handeln Resultat vernünftiger Überlegung wäre, wäre es wertlos. Dann wäre er nur ein Diener, der tut, was er tun muss. Also besteht er darauf, dass es willkürlich ist, eine bloße Laune. So versucht er, sein Handeln von allen äußeren Faktoren zu isolieren, ihm Autonomie zu geben und den Anschein, als rühre es nirgendwo her. Er gibt es frei und macht es sich dadurch zu Eigen.
Die Auffassung von Freiheit, die wir gerade untersucht haben, ist offensichtlich eine „späte“. Tief in der Subjektivität verankert, ist ihre düstere Pracht und verzweifelte Extravaganz die letzte Variation eines Themas, die in brillantem Eigensinn noch einmal einen ansonsten abgeflauten Impuls rekapituliert. Wir wenden uns nun dem gegenüberliegenden Punkt dieses Horizontes zu und blicken auf den Anfang, auf eine sehr frühe, recht primitive und deshalb umso aussagekräftigere philosophische Darstellung des Themas Freiheit.
Erste Philosophen der Freiheit: Sokrates und Platon
Sokrates’
Paradoxon …
Es war das verwirrendste, das sokratischste aller Paradoxa des Sokrates, das die Bühne für Platons Auseinandersetzung mit dem Problem des „freien“ Handelns abgab. Mit funkelnder Ironie hatte Sokrates seinen vielleicht aufrüttelndsten Lehrsatz in die Form einer scheinbaren Plattitüde gekleidet: „Niemand irrt sich absichtlich.“ Was könnte unschuldiger