Wie wir nicht sind. Osama Abu El Hosna

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Название Wie wir nicht sind
Автор произведения Osama Abu El Hosna
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783990015537



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      Osama Abu El Hosna:

      Wie wir nicht sind

      Alle Rechte vorbehalten

      © 2021 edition a, Wien

       www.edition-a.at

      Cover: Bastian Welzer

      Satz: Sophia Stemshorn

      Gesetzt in der Premiera

      Gedruckt in Europa

      1 2 3 4 5 — 24 23 22 21

      ISBN 978-3-99001-552-0

      eISBN 978-3-99001-553-7

      OSAMA ABU EL HOSNA

       WIE WIR NICHT SIND

       MEIN PLÄDOYER GEGEN VORURTEILE

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       JEBRIEL

       DIE FLUCHT

       EINE KINDHEIT IN GAZA

       DASEIN, FREMDSEIN

       AUF WIEDERSEHEN, BIS NIE WIEDER

       EIN HAUS FÜR ALLE – KEINES FÜR UNS

       NACH DEM ANSCHLAG

       EIN PLÄDOYER

       Für meine Familie

       »Kein Leben mit Verzweiflung, keine Verzweiflung mit Leben«

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      – (arabisches Sprichwort)

       JEBRIEL

      Die Schüsse waren es, die ich zuerst hörte. Nicht eine Sekunde könnte man denken, dass es etwas anderes ist. Kein Feuerwerk, kein Böller klingt so. Ich wusste, dass es Schüsse sind. Ich kenne dieses Geräusch, seit ich denken kann. Warum ich nach draußen stolperte, dem lauten Knallen entgegen, wusste ich nicht. In mir war etwas. Ich wollte nachsehen. Etwas wollte wissen, ob es wirklich wahr sein kann.

      Es war ein warmer Tag, die Luft roch noch nach Sommer. Ich ging wie im Schlaf, riss meine Augen auf, aber es war niemand da. Wo waren sie? Dann wieder Schüsse. Ein Schreien. Um mich herum Menschen. Ein lautes Rufen, eine Stimme, die mir bekannt vorkam. Meine Stimme? Mein Mund öffnete sich, aber was war es, das ich da rief? Buchstaben, die wie Wasser auf dem Boden versickerten. Alles war gleichzeitig. Ganz nah. Ganz weit weg. Ich war da, aber ich war es nicht. Ich war nur noch eine Ansammlung von Mensch, ein Haufen Glieder, Körperteile, die sich ineinander stapelten. Ein lautes Heulen ließ meine Hände versteinern. Sirenen. Meine Beine gingen wie von selbst. Gingen wie von selbst auf die Schüsse zu. Warum? Bin ich noch da? Wo bin ich? Schreie ich noch? Das Knallen, das Schlagen, immer näher. Ich spürte Luftstöße. Etwas zog an mir vorbei, scharf zischend, über mich hinweg. Ich legte meine Finger auf die Lippen. Ich rannte, stolperte, ich fiel, ich stand wieder auf. Was war das vor mir? Ich streckte meine starren Finger aus und griff ins Leere. Ich ging noch einen Schritt. Dann eine Tür, ein Gitter, Büsche. Ein Versteck. Ein Platz zum Atmen. Endlich. Ich zog meinen Kopf ein. Nicht aufstehen, nicht zucken.

      Meine Augen versuchten zu ordnen, was sie da sahen. Die grünen Blätter vor meiner Nase, die zerschossenen Scheiben. Meine Ohren versuchten zu filtern, was wichtig war. Die Splitter von Glas, die unter meinen Schuhen knirschten, waren es nicht. Sie erzählten nur beiläufig von einer Zerstörung. Ich werde hier nie rauskommen, oder vielleicht doch? Wieder Schreie, die anders klangen. Keine Verzweiflung. Kein Schmerz. Wie ein wütendes Geheul zogen sie zu mir herüber. Wie harte Schläge. Ich nahm die Finger von meinen Lippen, schmeckte Blut.

      »Hör auf!«, hörte ich meine Stimme rufen, lauter als ich gedacht hatte. Ich hatte keine Angst, ich schrie wieder »Hör auf!« Kurz war es ganz still. Dann kamen die Schusssalven wieder wie ein plötzlicher Gewitterausbruch. Vor mir in das Holz, neben mir in die asphaltierte Straße. Etwas fiel. Fiel vom Himmel. Dann war es plötzlich still. Als ob die Luft kaputt wäre.

      Die Rauchschwaden lichteten sich nur langsam. Die Luft kratzte noch in meinem Hals. Ich erhob mich aus meinem Versteck, hustete, hielt mir den Ärmel vor den Mund. Vor mir zeichneten sich die Umrisse eines Hauses ab. Ein alter Bauernhof oder das, was von ihm übrig geblieben war. Ein dumpfes Gefühl drückte mir den Hals zusammen. Ich bin hier schon einmal gewesen. Ich versuchte zu schlucken, aber ich konnte nicht. Mein Mund füllte sich immer mehr, es schmeckte, als hätte ich rostige Nägel auf meiner Zunge. Ich senkte meinen Kopf, erbrach mich, spuckte Blut auf den trockenen Boden vor mir. Dann hob ich meinen Kopf wieder. Jetzt wusste ich es. Es war der Bauernhof meines Onkels Jebriel in Gaza. Ich wusste es, aber ich rief trotzdem seinen Namen. »Jebriel«, rief ich und stolperte über Gesteinsbrocken, über umgestürzte Tische, zerschlissene Zäune. Meine Stimme hallte über die Landschaft.

      »Jebriel«.

      Ich wachte auf. Aber es war kein Traum.

      Langsam ballte ich meine Fäuste, bewegte vorsichtig meine Zehen, eine nach der anderen. Ich versuchte auch meinen Körper daran zu erinnern, dass ich in Wien war. In Sicherheit. Neben mir schlief Nada, meine Verlobte. Ich atmete tief ein und ließ die Luft beim Ausatmen zwischen meinen Zähnen herauszischen. Nadas Arme schwangen auf die andere Seite des Bettes. Ihre langen, dunklen Haare gaben dem Polster ein neues Muster. Ich wischte mir über meine Augen. Träume lösen sich mit dem ersten Sonnenstrahl oder dem Klingeln des Weckers in Luft auf, aber Erinnerungen, das wusste ich, bleiben. Ich stand auf und öffnete leise das Fenster. Ich war in Wien, viele Kilometer von Gaza entfernt. Elf Jahre hatte ich nicht von Jebriel geträumt. Warum ich es jetzt wieder tat? Vielleicht weil so viel passiert war, vielleicht weil ich mich zum ersten Mal in meinem Leben mit meiner eigenen Geschichte beschäftigte. Ich sah in den Himmel über mir und ich weinte. Ich konnte nicht anders. »Ich vermisse dich, Jebriel«, erzählte ich dem Nachthimmel. Der Nachthimmel ist ein geduldiger Zuhörer. Das wusste ich noch aus meiner Kindheit in Gaza. Wie viele meiner Träume sich wohl noch da oben zwischen den Sternen befinden? Welche hatte ich bereits vergessen?

      Damals in Gaza fanden wir Jebriel in einem Erdloch, halb eingegraben, so als wollte er nicht gefunden werden. Nur eine Hand sah heraus. Wir wussten nicht, wie lange er dort gelegen hatte, aber wir mussten uns die Hände vor unsere Gesichter halten, so schlimm war der Gestank. Von dem Bauernhof war nichts mehr übrig. Ein paar Hühner kletterten über die Trümmer, alle anderen Tiere waren tot. Auch Jebriels Stier. Er lag auf dem Boden, sein Kopf war seltsam verdreht, die großen Tieraugen starr in den Himmel gerichtet. Er war sein Lieblingstier gewesen. Niemand durfte ihm zu nahe kommen. Jebriel war der Einzige, den er nicht mit seinen Hufen trat. Der Stier war mit ihm groß geworden. Jebriel wurde nur achtzehn Jahre alt.

      Wir machten von allem Fotos. Dann löschten wir sie wieder. »Wir müssen löschen, damit wir vergessen können«, sagte meine Mutter.

      Ich denke heute noch oft an Jebriel. Ich konnte nicht vergessen. Ihn nicht und alles andere nicht, denn es war ja nie weggewesen. Es war immer da.

      Es