Название | Parlamentsrecht |
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Автор произведения | Philipp Austermann |
Жанр | Языкознание |
Серия | Schwerpunktbereich |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783811488526 |
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Parlamentsrechtlich besteht eine nicht zu übersehende Kontinuität, die vom Preußischen Abgeordnetenhaus, dem Reichstag und einigen Landesparlamenten der Kaiserzeit und der Weimarer Republik bis zum Bundestag und den Landesparlamenten der Bundesrepublik reicht[85] (s. Rn. 36, 47, 59). Das Parlamentsrecht ist das Paradigma für normative Kontinuität:[86] Die Volksvertretungen der Nachkriegszeit knüpften wie ihre Vorgänger in der Zwischenkriegszeit an den jeweils „letzten Stand“ des Geschäftsordnungsrechts an. Bspw. übernahm der 1. Bundestag vorläufig die Geschäftsordnung des Reichstages vom 12. Dezember 1922, die im Wesentlichen auf der Geschäftsordnung des kaiserzeitlichen Reichstages basierte, die wiederum in Vielem auf der Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses aufbaute. Während das Anknüpfen des Bundestages an das Geschäftsordnungsrecht des Reichstags der Weimarer Republik plausibel sein mag, war der Rückbezug Weimars auf das Kaiserreich angesichts der anders gearteten parlamentarischen Struktur unreflektiert und problembehaftet.
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Die Kontinuität gilt zum einen für die Regelungsform des autonomen Parlamentsrechts: Obwohl deren maßgebliche Triebfeder aus dem Konstitutionalismus (die Umgehung des Mitwirkung des Monarchen bei der förmlichen Gesetzgebung) weggefallen ist, wird die Geschäftsordnung bis heute als Rechtssatz eigener Art oder – wie die h.M. meint – „autonome Satzung“ erlassen. Die Kontinuität ist zum anderen bei den Regelungsinhalten zu beobachten: Ein Kanon an parlamentarischen Institutionen und Rechtsinstituten steht im Kern seit der Paulskirchenversammlung, spätestens aber seit der Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses fest. Er wird stetig ergänzt, aber kaum mehr substanziell gekürzt.
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Vieles im Bundestag gemahnt an den Reichstag: die Anordnung der Regierungs- und der Bundesratsbank, die Sitzordnung im Plenum, die Beachtung des Fraktionsproporzes (unter anderem bei den Redezeiten), das jederzeitige Zutritts- und Rederecht der Mitglieder und Beauftragten von Bundesregierung und Bundesrat (Art. 43 Abs. 2 GG), der vergleichsweise sachorientierte und wenig lebendige Debattenstil und das Selbstverständnis als „Arbeitsparlament“ (mit hoher Bedeutung der Ausschüsse und interfraktionellen Absprachen) sowie die betonte Eigenständigkeit des Bundestages im Verhältnis zur Bundesregierung (z.B. beim Hinweis auf das „Struckʼsche Gesetz“, wonach das beschlossene Gesetz nahezu immer vom Gesetzentwurf abweicht).
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Allerdings wurden in der Bundesrepublik sehr viele Neuerungen eingeführt. Bereits am 6. Dezember 1951 (mit Wirkung ab dem 1. Januar 1952) erließ der Bundestag eine neue Geschäftsordnung (GO-BT). Sie enthielt ca. 30 Änderungen im Vergleich zur früheren Geschäftsordnung des Reichstages und sah z.B. öffentliche Anhörungen vor.[87] Die GO-BT ist seitdem immer wieder geändert und ergänzt worden. Der Bundestag führte die Fragestunde (1960), eine Geheimschutzordnung (1964), die Aktuelle Stunde (1965), die Möglichkeit zur Einsetzung einer Enquêtekommission (1969) und das Format der Befragung der Bundesregierung im Plenum (1988) ein. Er lässt seit 1969 strafrechtliche Ermittlungsverfahren, jeweils bis zum Ende einer Wahlperiode, pauschal zu. Auch bei den Leitungsorganen gab es Änderungen. Der Vorstand wurde mit dem Ältestenrat „zu einem neuen kräftigen Lenkungsgremium zusammengefasst“[88] – mit der Bezeichnung „Ältestenrat“. Der Bundestag führte im Jahr 1972 erstmals Verhaltensregeln ein, die seitdem mehrfach verschärft wurden, zuletzt grundlegend im Jahr 2005. Seitdem sind die Einkünfte aus Tätigkeiten neben dem Mandat dem Bundestagspräsidenten anzuzeigen und von diesem in (mittlerweile zehn) Stufen zu veröffentlichen. Eine größere Geschäftsordnungsreform (unter anderem mit einer Änderung der Paragraphenfolge) datiert vom 25. Juni 1980. Diese Version der GO-BT gilt – mit weiteren Änderungen und Ergänzungen – noch heute.
§ 2 Geschichte der Parlamente und des Parlamentsrechts › IV. Scheinparlamente
1. Reichstag unter nationalsozialistischer Herrschaft[89]
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Am 17. Mai 1933 tagte der Reichstag zum letzten Mal als Mehrparteienparlament.
Während der Regierungszeit Hitlers tagte der Reichstag übrigens nie im Reichstagsgebäude. Stattdessen trat er überwiegend und passenderweise in der „Kroll-Oper“, einem Veranstaltungskomplex gegenüber vom Reichstagsgebäude, zusammen. Hitler sprach auch nie im Reichstagsgebäude.
Zum letzten Mal waren auch weibliche und jüdische Abgeordnete anwesend. Parteien, die sich nicht freiwillig auflösten, wurden durch das „Gesetz gegen die Neubildung von Parteien“ vom 14. Juli 1933[90] verboten. Die NSDAP wurde zur Staatspartei. Der Reichstag war ein Scheinparlament, da er nicht demokratisch gewählt wurde und die Aufgaben eines Parlaments nicht mehr wahrnahm. Er tagte selten (vom Mai 1933 bis zum Mai 1945 nur noch neunzehnmal), kontrollierte die Regierung nicht (auch weil es keine anderen Parteien als die NSDAP mehr gab) und erließ gerade einmal sieben Gesetze ohne jede Plenar- oder Ausschussberatung. Die Ausschüsse tagten nicht und wurden ab 1936 auch gar nicht mehr eingesetzt. Der Reichstag verkam zum reinen „Akklamationsorgan“[91], zum „teuersten Gesangsverein Deutschlands“ oder „bestbezahlten Männerchor der Welt“[92] – eine Anspielung auf den Umstand, dass die Abgeordneten monatliche Diäten erhielten, dafür aber kaum tagten und sich auf das Bejubeln der Reden Hitlers (etwa zum „Anschluss“ Österreichs und zum Beginn des Zweiten Weltkriegs[93]) und das Singen der Hymne beschränkten. Die Bedeutungslosigkeit des Reichstages zeigte sich auch daran, dass die Abgeordneten zu den Reichstagssitzungen im Zweiten Weltkrieg erst kurz vor der jeweiligen Tagung eingeladen wurden. Trotz der Bedeutungslosigkeit des „Parlaments“, blieb die Reichstagsverwaltung unter Reichstagspräsident Göring bis Kriegsende bestehen. Der Reichstag setzte sich fast ausnahmslos aus der „Ober- und Mittelschicht der nationalsozialistischen Parteiführerschaft“ zusammen.[94] Nur wenige Abgeordnete gehörten nicht der NSDAP an. Doch auch sie kandidierten auf der allein zur Wahl stehenden Einheitsliste der NSDAP und waren als „Gäste“ der NSDAP-Fraktion in den NS-Staat fest eingebunden. Die „Reichstagswahlen“ der Jahre 1933, 1936 und 1938 waren eine bloße Farce. Zum letzten Mal trat der Reichstag