Verfassungsprozessrecht. Christian Hillgruber

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Название Verfassungsprozessrecht
Автор произведения Christian Hillgruber
Жанр Языкознание
Серия Schwerpunkte Pflichtfach
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783811492806



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Rechtsstreit ohne Antrag eines hierzu berechtigten Antragstellers für nichtig zu erklären.[6] Das Gericht behilft sich damit, solche Normen schlicht außer Anwendung zu lassen und sein Verfahren an den Vorgaben des Grundgesetzes auszurichten. Weil niemand außer dem BVerfG das BVerfGG anwendet, kommt die Wirkung der Nichtanwendung der förmlichen Nichtigerklärung dieser Vorschriften gleich.

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      Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob das BVerfG nicht solche Vorschriften der Klarheit halber dem jeweils anderen Senat nach Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG vorlegen sollte. Der Wortlaut der Vorschrift stünde einer solchen Vorgehensweise nicht entgegen. Auch der Einwand des nemo iudex in causa sua griffe nicht durch, weil es zu einer Entscheidung des BVerfG nur auf verfahrenseinleitenden Antrag hin kommen kann (§ 23 Abs. 1 S. 1 BVerfGG).

      § 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › II. Zuständigkeits- und Verfahrensregelungen › 3. Problematische Zuständigkeitserweiterungen

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      Verboten ist es dem BVerfG nicht nur, seine Zuständigkeiten durch Selbstermächtigung zu erweitern, sondern auch, sich über zuständigkeitsbegrenzende Zulässigkeitsvoraussetzungen hinwegzusetzen, die sich aus dem GG und verfassungsgemäßen Bestimmungen des BVerfGG ergeben. In einer Entscheidung aus dem Jahr 1966 führt das Gericht zutreffend aus (BVerfGE 21, 52, 53 f):

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      „Die Bestimmung des Kreises der Antragsberechtigten hat nicht nur technische Bedeutung; sie hängt eng mit dem verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Gehalt der Rechtsstreitigkeiten zusammen, die dem BVerfG zur Entscheidung zugewiesen sind. Die Antragsberechtigung kann daher nicht im Wege der Analogie aus Gründen eines vermeintlichen Sachbedürfnisses erweitert werden. Das Gericht würde damit die der Verfassungsgerichtsbarkeit vom GG gezogenen Grenzen durch Zulassung neuer Verfassungsstreitigkeiten überschreiten und so von einer wichtigen Grundentscheidung des Verfassungsgebers abweichen. Dazu ist es nicht befugt.“

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      Heikel ist in dieser Hinsicht vor allem die Rechtsprechung des BVerfG zum Verfassungsbeschwerdeverfahren. Aus Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG ergibt sich, dass der Beschwerdeführer behaupten können muss, in einem seiner Grundrechte (dh in subjektiven Rechten, die sich im ersten Abschnitt des Grundgesetzes unter der Überschrift „I. Die Grundrechte“ finden) oder in einem seiner in Art. 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 GG enthaltenen Rechte verletzt zu sein. Die Aufzählung weiterer Vorschriften des Grundgesetzes, aus denen verfassungsbeschwerdefähige Rechte folgen können, macht nur dann Sinn, wenn sie als Ausschluss nicht genannter Vorschriften des Grundgesetzes in den Abschnitten II. bis XI. verstanden wird, aus denen ebenfalls subjektive Rechte folgen können.

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      Kritisch zu sehen sind daher beispielsweise die Ausführungen des Gerichts zur Verfassungsbeschwerde eines Bundestagsabgeordneten, der eine Verletzung seiner Rechte „aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 47 Satz 2 GG“ gerügt hatte (BVerfGE 108, 251, 267): „Der Beschwerdeführer […] kann nicht auf das Organstreitverfahren als vorrangige Rechtsschutzmöglichkeit verwiesen werden […]. Hier macht der Beschwerdeführer […] nicht seine organschaftliche Stellung gegenüber einem im Organstreitverfahren parteifähigen Verfassungsorgan geltend. Vielmehr rügt er die Verletzung eines im fachgerichtlichen Verfahren zu berücksichtigenden subjektiven öffentlichen Rechts durch die öffentliche Gewalt. In diesem Fall muss dem Abgeordneten die verfassungsrechtliche Klärung der Frage, ob seine Rechte aus Art. 47 S. 2 GG verletzt sind, im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde möglich sein.“ – Vergleichbares hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG in ihrem Nichtannahmebeschluss im Fall Edathy für den ebensowenig rügefähigen Art. 46 GG angenommen, obwohl die Gewährleistung der parlamentarischen Immunität in erster Linie der Funktionsfähigkeit des Parlaments diene. Der Abgeordnete könne gegenüber dem Parlament beanspruchen, dass dieses willkürfrei über eine beantragte Aufhebung der Immunität entscheide, und Art. 46 Abs. 2 GG enthalte zudem ein Verfahrenshindernis, das die öffentliche Gewalt bei allen gegen Bundestagsabgeordnete gerichteten Maßnahmen streng zu beachten habe; auch darauf könne sich der einzelne Abgeordnete berufen. Mache der Beschwerdeführer nicht seine organschaftliche Stellung, sondern die Verletzung seiner Immunität als eines subjektiven öffentlichen Rechts geltend, sei die Verfassungsbeschwerde statthaft (BVerfG-K NJW 2014, 3085, 3086; vgl auch Rn 462).

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      Das BVerfG hat nicht nur den Kreis der rügefähigen Rechte im Verfassungsbeschwerdeverfahren über den Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG hinaus erweitert, sondern auch den Prüfungsumfang in diesem Verfahren außerordentlich umfassend angelegt. In der Elfes-Entscheidung formuliert das Gericht bezogen auf Art. 2 Abs. 1 GG, was es später – konsequenterweise – auf alle übrigen Grundrechte erstreckt hat (BVerfGE 6, 32, 41):

      „Jedermann kann im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen, ein seine Handlungsfreiheit beschränkendes Gesetz gehöre nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung, weil es (formell oder inhaltlich) gegen einzelne Verfassungsbestimmungen oder allgemeine Verfassungsgrundsätze verstoße; deshalb werde sein Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt.“

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