Verfassungsprozessrecht. Christian Hillgruber

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Название Verfassungsprozessrecht
Автор произведения Christian Hillgruber
Жанр Языкознание
Серия Schwerpunkte Pflichtfach
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783811492806



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Gründe (rationes decidendi), soweit sie Ausführungen zur Auslegung der Verfassung enthalten, teilhaben lässt[12]. Diese Deutung des § 31 Abs. 1 BVerfGG entspricht dem Selbstverständnis des BVerfG[13], das sich für den „maßgeblichen Interpreten und Hüter der Verfassung“, für die „verbindliche Instanz in Verfassungsfragen“ hält (BVerfGE 40, 88, 93 f; 112, 268, 277; 150, 204, 227). Darin dürfte – entgegen kritischen Stimmen in der Literatur[14] – wohl auch der eigentliche Sinngehalt des § 31 Abs. 1 BVerfGG liegen, über die personelle Geltungserstreckung der Rechtskraft der Entscheidungen des BVerfG auf alle staatlichen Organe, auch alle Behörden und Gerichte, hinaus[15]. Handeln Letztere dieser einfachgesetzlich angeordneten Bindungswirkung zuwider, dh setzen sie sich darüber hinweg, so liegt in diesem Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bzw gegen die Gesetzesbindung der rechtsprechenden Gewalt zugleich ein Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG, der vom BVerfG auf Verfassungsbeschwerde hin, die auf Art. 2 Abs. 1 GG gestützt werden kann, durch Aufhebung des Verwaltungsaktes bzw der Gerichtsentscheidung sanktioniert wird (BVerfGE 115, 97, 108; BVerfGK 7, 229, 236). Dagegen kann sich der Gesetzgeber der in § 31 Abs. 1 BVerfGG für ihn liegenden Selbstbindung durch einen gegenläufigen Gesetzgebungsakt auch wieder entledigen.

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      Die Verbindlichkeit der Verfassungsauslegung durch das BVerfG macht dieses Gericht nicht zum authentischen Interpreten der Verfassung, wodurch es Anteil an der Verfassungsgesetzgebung hätte; da ihm die Verfassung als Maßstab vorgegeben ist, kann es nicht zugleich selbst über sie verfügen. Wohl aber liegt bei ihm die Kompetenz zur autoritativen, letztverbindlichen Auslegung des Grundgesetzes, was ihm die im wahrsten Sinne des Wortes entscheidende Interpretationsherrschaft verschafft.

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      Das BVerfG besitzt kein Interpretationsmonopol hinsichtlich der Verfassung, aber in Sachen Auslegung der Verfassung das maßgebliche letzte Wort. Die anderen Verfassungsorgane sind dagegen lediglich zur Erst- oder Zweitinterpretation der ihr Handeln verfassungsrechtlich determinierenden Grundgesetzbestimmungen berufen. Der vom BVerfG (BVerfGE 106, 310 ff) abschließend entschiedene Streit um das wirksame Zustandekommen des so genannten Zuwanderungsgesetzes macht dies deutlich. Die Interpretation der hier maßgeblichen Vorschrift des Art. 51 Abs. 3 S. 2 GG lag zunächst in der Hand des Bundesrates, genauer: in der Hand des die Verhandlungsleitung innehabenden und die vom Bundesrat gefassten Beschlüsse feststellenden Präsidenten des Bundesrates, sodann – in Zweitinterpretation – beim Bundespräsidenten, der vor Entscheidung über die Ausfertigung des Gesetzes dessen ordnungsgemäßes Zustandekommen gemäß Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG prüfen musste. Das entscheidende letzte Wort gebührte dann dem in einem abstrakten Normenkontrollverfahren gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr 2 GG angerufenen BVerfG.

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      Denkt man sich das „(Verfassungs-)Haus ohne Hüter“, also die Institution des BVerfG, wie sie das GG verfasst hat, einmal hypothetisch weg, dann unterläge zwar die Verwaltung wegen der Gewährleistung des Art. 19 Abs. 4 GG einer gerichtsförmigen Kontrolle am Maßstab auch der Verfassung, und auch die anderen Fachgerichte könnten im Rahmen ihrer Zuständigkeiten aufgrund ihrer unmittelbaren Bindung an die Grundrechte und die Verfassung im Ganzen (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG) deren Unverbrüchlichkeit verbürgen. Der parlamentarische Gesetzgeber wäre aber keiner prinzipalen Kontrolle unterworfen, und Gesetze könnten, sofern sie nicht in Individualrechte eingreifen und dagegen fachgerichtlicher Individualrechtsschutz mobilisiert werden kann, nicht auf ihre objektive Übereinstimmung mit der Verfassung überprüft werden. Daher liegt in der Einrichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit, welche die umfassende Zuständigkeit für eine abstrakte und konkrete, prinzipale und inzidente, unmittelbare und mittelbare Kontrolle von formellem Gesetzesrecht besitzt, eine partielle Entmachtung des Gesetzgebers. Nur der verfassungsändernde Gesetzgeber kann – als authentischer Interpret der Verfassung