Staatsrecht III. Hans-Georg Dederer

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Название Staatsrecht III
Автор произведения Hans-Georg Dederer
Жанр Языкознание
Серия Schwerpunkte Pflichtfach
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783811492813



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der Gemeinschaftsrechtsordnung verlangt die europarechtsfreundliche Anwendung von Verfassungsrecht bei Beachtung des in Art. 100 Abs. 1 GG zum Ausdruck gebrachten Rechtsgedankens, dass … die Feststellung einer Verletzung der Verfassungsidentität nur dem Bundesverfassungsgericht obliegt. In welchen Verfahren das Bundesverfassungsgericht im Einzelnen mit dieser Kontrolle befasst werden kann, braucht an dieser Stelle nicht entschieden zu werden. In Betracht kommt die Inanspruchnahme bereits jetzt vorgesehener Verfahren, mithin die abstrakte (Art. 93 Abs. 1 Nr 2 GG) und konkrete (Art. 100 Abs. 1 GG) Normenkontrolle, der Organstreit (Art. 93 Abs. 1 Nr 1 GG), der Bund-Länder-Streit (Art. 93 Abs. 1 Nr 3 GG) und die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG) …“

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      Die Identitätskontrolle bezieht sich danach auf den unantastbaren Kerngehalt der Verfassungsidentität des GG, der vom BVerfG in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 iVm der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG verortet wird. Das ist nicht ganz schlüssig, da sich der Wortlaut des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG lediglich auf primäres Unionsrecht (Gründungsverträge, Änderungs- und Beitrittsverträge sowie vergleichbare Regelungen, s. Rn 133) bezieht. Gleichwohl erscheint es im Rahmen einer teleologischen Interpretation vertretbar. Mit dem BVerfG lässt sich das so begründen (BVerfGE 134, S. 366 ff, 384):

      „Hat die Maßnahme eines Organs oder einer sonstigen Stelle der Europäischen Union Auswirkungen, die die durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Verfassungsidentität berühren, so ist sie in Deutschland von vornherein unanwendbar. Auf einer primärrechtlichen Ermächtigung kann eine derartige Maßnahme nicht beruhen, weil auch der mit der Mehrheit des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG entscheidende Integrationsgesetzgeber der Europäischen Union keine Hoheitsrechte übertragen kann, mit deren Inanspruchnahme eine Berührung der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsidentität einherginge.“

      Ein identitätsverletzender sekundärer Unionsrechtsakt ergeht daher nach dieser Rechtsprechung immer auch ultra vires. Denn für die identitätsverletzende Ausübung von Hoheitsgewalt fehlt der EU schlicht die Kompetenz. Dogmatisch lässt sich das auch so begreifen, dass das Integrationsgesetz iSv Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG, sollte es entgegen Art. 23 Abs. 1 Satz 3 iVm Art. 79 Abs. 3 GG Hoheitsrechte übertragen haben, deren Inanspruchnahme die in Art. 79 Abs. 3 GG garantierte Verfassungsidentität verletzen würde, verfassungswidrig und damit nichtig ist. Insoweit taugt es mithin nicht als „Brücke“, dh als „konstitutiver Rechtsanwendungsbefehl“ bzw „nationale Geltungsanordnung“ für die innerstaatliche Geltung von Unionsrecht (s. Rn 167).

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      Mithin bezieht das BVerfG die Identitätskontrolle nicht nur auf den Fall einer Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG. Denn sie soll sich ausdrücklich gerade auch auf „identitätsverletzende Unionsrechtsakte im Einzelfall“ beziehen (BVerfGE 123, S. 267 ff, 355). Die Feststellung der Unanwendbarkeit eines Unionsrechtsaktes müsse auch dann erfolgen können, „wenn innerhalb … der übertragenen Hoheitsrechte diese mit Wirkung für Deutschland so ausgeübt werden, dass eine Verletzung der durch Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbaren … Verfassungsidentität die Folge ist“ (BVerfGE 123, S. 267 ff, 400). Ist der Kerngehalt der Verfassungsidentität durch eine Handlung der EU verletzt, so kann diese vom BVerfG für unanwendbar erklärt werden.

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      Mit Rücksicht auf Art. 23 Abs. 1 Satz 3 iVm Art. 79 Abs. 3 iVm Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG prüft das BVerfG im Rahmen der Identitätskontrolle, ob die Übertragung von Hoheitsrechten gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG den „wesentlichen Inhalt“ des Grundsatzes der Volkssouveränität (vgl Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG) verletzt. Das soll insbesondere der Fall sein, wenn (1) auf die EU die sog. „Kompetenz-Kompetenz“ übertragen wird, (2) dem Bundestag nicht mehr „eigene Aufgaben und Befugnisse von substanziellem politischen Gewicht verbleiben“ (wobei in jedem Fall das „Budgetrecht“ und die „haushaltspolitische Gesamtverantwortung“ beim Bundestag verbleiben müssen) und (3) die Ausgestaltung der EU, insbesondere auch die „organisatorische und verfahrensrechtliche Ausgestaltung der autonom handelnden Unionsgewalt“ nicht (mehr) demokratischen Grundsätzen entspricht (BVerfG, NJW 2019, S. 3204 ff, 3206 f).

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      Insbesondere muss danach das Prinzip demokratischer Legitimation auch für die Ausübung von Hoheitsgewalt durch die EU beachtet werden. Hierfür können nicht die gleichen Anforderungen wie in Ansehung nationaler Hoheitsgewalt gelten (Rn 151). Insbesondere können „Einflussknicks“ hingenommen werden, sofern sie „durch andere Legitimationsstränge auf supranationaler Ebene“ kompensiert werden. In jedem Fall gewahrt sein muss jedoch ein „Mindestmaß“ an demokratischer Legitimation. Das gilt auch „mit Blick auf die Europäisierung der nationalen Verwaltungsorganisation und bei der Errichtung von unabhängigen Einrichtungen und Stellen der Europäischen Union“. Deshalb dürfen zB EU-Agenturen nicht beliebig als unabhängige Behörden eingerichtet werden. Vielmehr können auch durch Unabhängigkeit bedingte „Einflussknicks“ nur aus „verfassungsrechtlich legitimen Gründen“ vor Art. 20 Abs. 1 und 2 GG Bestand haben (BVerfG, NJW 2019, S. 3204 ff, 3208).

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      In seinem Beschluss vom 15. Dezember 2015 hat das BVerfG außerdem auf die Grundsätze des Art. 1 GG als Bestandteil der Verfassungsidentität Bezug genommen. Zu diesen Grundsätzen gehörten „die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG), aber auch der in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt“ (sog. „Schuldgrundsatz“; BVerfGE 140, S. 317 ff, 341). Dabei hat das Gericht erneut jede Relativierung im Einzelfall ausgeschlossen (ibidem, Rz 49).

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      Auf dem Weg über Art. 1 Abs. 1 GG kommt das BVerfG – im Rahmen der Verfassungsidentitätskontrolle – zur Grundrechtskontrolle im Einzelfall. Wo es um die Verletzung des grundrechtlichen Achtungsanspruchs aus der Menschenwürde durch Unionsrechtsakte geht, zieht sich das BVerfG nicht mehr (wie bisher, s. Rn 186) aus der Grundrechtskontrolle zurück, sondern sieht sich zur Prüfung im Einzelfall eines Grundrechtsverstoßes befugt. Damit aber ist die Einzelfallkontrolle nicht nur für Art. 1 Abs. 1 GG, sondern für alle Grundrechte des GG eröffnet, weil und soweit es um den jeweiligen Menschenwürdekern des betreffenden Grundrechts geht (vgl BVerfGE 109, S. 279 ff, 310 f).

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      Für Zwecke einer solchen Grundrechtskontrolle im Einzelfall kann das BVerfG über eine Verfassungsbeschwerde angerufen werden. Dabei sollen allerdings erhöhte Anforderungen an die Darlegungslast bestehen. Es müsse „substantiiert dargelegt“ werden, inwieweit die Menschenwürdegarantie im Einzelfall verletzt ist (BVerfGE 140, S. 317 ff, 341 f). Gegenständlich kann sich dabei die Verfassungsbeschwerde auch auf solche Akte deutscher Staatsgewalt beziehen, die vom Unionsrecht „determiniert“ sind (ibidem, Rz 51).

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      Mit dieser Rechtsprechung begibt sich das Gericht freilich – durchaus sehenden Auges (vgl BVerfGE 140, S. 317 ff, 354 f, 359) – auf Kollisionskurs mit dem EuGH. Dieser hat im Melloni-Urteil (s. Rn 1316) entschieden, dass nationaler Grundrechtsschutz keinesfalls, selbst wenn er höheren Schutz als durch die Unionsgrundrechte bietet, den Vorrang, die Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigen darf.

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