Название | Einführung Somatoforme Störungen, Somatische Belastungsstörungen |
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Автор произведения | Annabel Herzog |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846353493 |
In den Klassifikationssystemen der WHO (1991) und der APA (2000) wurden die somatoformen Störungen lange Zeit als eigenständige, primäre Störungskategorie aufgeführt (Abb. 1.4). Die Diagnosen enthielten dabei nicht nur störungswertige Merkmale der Person selbst (Tendenz, körperlichen Stress zu erleben und zu kommunizieren), sondern beinhalteten auch ein dysfunktionales Interaktionsmuster zwischen den Patientinnen und Patienten mit ihren Erklärungsmustern und Verhaltensweisen einerseits und den Ärztinnen und Ärzten bzw. dem medizinischem System andererseits.
Abb. 1.4: Klassifikation der somatoformen Störungen nach ICD-10 (WHO 1992)
Als Alternative zur Diagnose der somatoformen Störung wurde lange Zeit vor allem in den Leitlinien der ICD für die ärztliche Primärversorgung der Begriff der „medizinisch unerklärten Symptome“ verwendet (Deary 1999). Der Begriff ist neutraler im Vergleich zum Somatisierungsbegriff, der durch seine historische Verknüpfung mit dem Konzept der Hysterie vorbelastet ist und dadurch auf Patientinnen und Patienten stigmatisierend wirken kann. Trotzdem ist der Begriff nicht unumstritten.
medizinische Erklärbarkeit von Körperbeschwerden
In der Wissenschaft findet sich der Standpunkt, dass alle körperlichen Beschwerden erklärbar sind, wenn die medizinische Abklärung nur ausführlich genug durchgeführt wird, und es lediglich eine Frage des medizintechnischen Fortschrittes ist, bis alle Beschwerden erklärt werden können. In der Praxis tun sich Behandlerinnen und Behandler häufig schwer, einzelne Beschwerden als hinreichend medizinisch erklärbar oder nicht einzuordnen (Fischer / Nater 2012).
1.4 „Revolution“ der diagnostischen Konzepte: aktueller Stand
Diese historischen diagnostischen Konzepte wurden aktuell durch Expertengremien der Weltgesundheitsorganisation und der American Psychiatric Association sowohl im DSM-5 (APA 2013) als auch in der ICD-11 (WHO 2018) durch neue Diagnosen abgelöst. Die neue Terminologie reflektiert das heutige Verständnis zur Pathogenese, Aufrechterhaltung und Prognose von subjektiv belastenden Körpersymptomen und soll damit auch den therapeutischen Zugang erleichtern, um unbefriedigende Behandlungsverläufe und eine Chronifizierung von körperlichen Beschwerden frühzeitig abwenden zu können (Känel et al. 2016).
Neuerungen in der Klassifikation
In der 2013 erschienenen 5. Auflage des „Diagnostischen und Statistischen Manuals für psychische Störungen“ (DSM-5) der American Psychiatric Association wurden die Somatisierungsstörung, die undifferenzierte somatoforme Störung, die Hypochondrie und die Schmerzstörung als Diagnosen abgeschafft. Die meisten der Patientinnen und Patienten, die zuvor eine dieser Diagnosen erhielten, erfüllen mit ihren Symptomen nun die Kriterien der so genannten somatischen Belastungsstörung (englische Übersetzung: Somatic Symptom Disorder).
In der 2018 von der WHO in Genf vorgestellten Internationalen Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation – 11. Revision (ICD-11) wurde die diagnostische Kategorie der somatoformen Störungen ebenfalls ersetzt, und zwar durch die so genannte Bodily Distress Disorder; in der deutschen Übersetzung soll die neue Diagnose ebenfalls somatische Belastungsstörung heißen. Die Kriterien sind den im DSM-5 beschriebenen inhaltlich sehr ähnlich und gehen entsprechend mit denselben Veränderungen und Implikationen einher.
neue Diagnose der somatischen Belastungsstörung
Die ICD-11 wurde 2019 durch die Weltgesundheitsversammlung (World Health Assembly, WHA) verabschiedet. Über den Zeitpunkt einer möglichen Einführung der ICD-11 in Deutschland sind allerdings derzeit noch keine Aussagen möglich. Solange behält die ICD-10 der WHO im deutschen Gesundheitssystem für die Kodierung von (psychischen) Erkrankungen und die Abrechnung stationärer und ambulanter Leistungen ihre Gültigkeit. Entsprechend behalten auch die „somatoformen Störungen“ ihre Berechtigung in der Klassifikation anhaltender und belastender Körperbeschwerden.
Hypochondrie als Diagnose abgeschafft
Die somatische Belastungsstörung mit körperlichen Beschwerden sowie symptombezogenen Ängsten und Befürchtungen ist gemäß DSM-5 von der Krankheitsangststörung abzugrenzen, bei der die Überzeugung vorherrscht, an einer ernsthaften Krankheit zu leiden, ohne dass gleichzeitig körperliche Symptome präsent sind (APA 2013). Im DSM-IV erfüllten Patientinnen und Patienten, die ein oder mehrere körperliche Symptome fälschlicherweise im Sinne einer schwerwiegenden Krankheit interpretierten oder glaubten, dass sie trotz anders lautender medizinischer Bewertung und Beruhigung mit Ängsten vor einer schlimmen Erkrankung beschäftigt waren, die Diagnose einer Hypochondrie. Von denjenigen Patientinnen und Patienten, bei denen zuvor eine Hypochondrie diagnostiziert wurde, werden nun ca. 80 % unter die DSM-5-Diagnose einer somatischen Belastungsstörung (wenn körperliche Beschwerden vorhanden sind) und ca. 20 % unter die DSM-5-Diagnose einer Krankheitsangststörung (wenn körperliche Beschwerden minimal oder gar nicht vorhanden sind) subsumiert (Bailer et al. 2016; Abb. 1.5).
Die neuen diagnostischen Konzepte tragen der Tatsache Rechnung, dass ca. 30 % der Patientinnen und Patienten in der allgemeinmedizinischen Versorgung körperliche Symptome haben, durch die sie sich erheblich gestresst und im Alltag (Familie, Beruf, Freizeit) eingeschränkt fühlen. Ärztinnen und Ärzte verschiedenster Fachrichtungen beschäftigten sich in ihrem Praxisalltag also mit körperlichen Symptomen, die häufig erst dadurch Krankheitswert erhalten, dass Patientinnen und Patienten aufgrund von mit den Symptomen assoziierten dysfunktionalen Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen einen Leidensdruck verspüren und deshalb überhaupt erst medizinische Versorgung in Anspruch nehmen. Körpersymptome werden nun als eigenständige klinische Entität ernst genommen, weil sie entsprechend zu weitreichenden Einschränkungen bei den Betroffenen, bis hin zur Invalidisierung in allen wichtigen Alltagsbereichen führen können (Känel et al. 2016).
Abb. 1.5: Reduktion der diagnostischen Kategorien von DSM-IV zu DSM-5 (nach Dimsdale et al. 2013)
Kennzeichen einer somatischen Belastungsstörung
Für die neue Diagnose genügt bereits ein einziges chronisches körperliches Symptom (z. B. Schmerz, Schwächegefühl oder Kurzatmigkeit), das zu einer erheblichen Funktionseinschränkung in wichtigen Lebensbereichen führt. Die somatische Belastungsstörung ist darüber hinaus dadurch gekennzeichnet, dass die somatischen Symptome von einer unverhältnismäßig ausgeprägten gedanklichen, emotionalen oder verhaltensmäßigen Beschäftigung mit diesen Symptomen begleitet werden. Außerdem verursachen die Symptome eine erhebliche Belastung und / oder Funktionseinschränkung im Alltag (Dimsdale / Levenson 2013).
Die somatischen Symptome können dabei durch eine zugrunde liegende somatische Grunderkrankung erklärbar sein oder auch nicht. Die Diagnose einer somatischen Belastungsstörung wird unabhängig von der Ursache der körperlichen Beschwerden gestellt. Damit entfällt die stigmatisierende und häufig nicht mit Sicherheit zu treffende Unterscheidung zwischen somatoformen (medizinisch unerklärten, „psychogenen“) und somatischen (organmedizinisch begründeten) Symptomen (Creed et al. 2011; Hilderink et al. 2013; Känel et al. 2016). Entsprechend der neuen Kriterien können auch bei Vorliegen einer somatischen Grunderkrankung (z. B. Asthma) anhaltende Sorgen und Ängste (hier bezogen z. B. auf eine mögliche Luftnot mit Erstickungsgefahr), die Diagnose rechtfertigen.
Abb. 1.6: Klassifikationskriterien der somatischen Belastungsstörung (300.82) nach DSM-5 (APA 2013)
keine reine Ausschlussdiagnostik
Die Diagnose kann nicht vergeben werden, nur weil eine medizinische Ursache für ein körperliches Symptom nicht identifiziert werden kann (im