Название | Geschichte der deutschen Literatur. Band 3 |
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Автор произведения | Gottfried Willems |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846337349 |
Was aber heißt Modernisierung? Es heißt zunächst und vor allem: Umgestaltung der Lebensverhältnisse auf der Basis des Fortschritts der Wissenschaften, Verwissenschaftlichung der Welt im Namen des gesellschaftlichen Fortschritts. Und das wiederum bedeutet, daß die überkommenen Lebensverhältnisse, an die die Menschen gewöhnt sind, nicht einfach fortgeschrieben werden; daß sich viele der überkommenen, traditionellen Bindungen lockern, in die sich die Menschen bis dato hineingestellt wußten, Bindungen, die einerseits zwar
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ihre Bewegungsfreiheit begrenzen, die ihnen andererseits aber auch Sicherheit und Orientierung geben, Bindungen wie die an einen Stand, einen Beruf, eine Region oder eine Kirche. Die Menschen werden mehr und mehr in eine umfassende soziale Mobilität hineingerissen, sie steigen auf und ab auf der sozialen Leiter, sie wechseln oder verlieren ihre Konfession und Religion, wechseln ihre „Weltanschauung“, sie verlassen ihre Heimat, ihre Familie und ihren Beruf und ziehen dahin oder dorthin.
Zu dieser Modernisierung des Lebens und Mobilisierung der Menschen gehört wesentlich mit dazu, was die Soziologie als Pluralismus und Individualismus beschreibt. Pluralismus meint, daß Menschen unterschiedlicher Religion, Konfession oder Weltanschauung und unterschiedlicher Herkunft, Menschen, die die verschiedensten Lebensstile praktizieren und die unterschiedlichsten Lebensziele verfolgen, in ein und derselben Gesellschaft nebeneinander leben und zusehen müssen, daß sie so, wie sie die Dynamik der Modernisierung durcheinandergewirbelt hat, miteinander auskommen können. Und Individualismus bedeutet, daß sich in dieser Dynamik der Modernisierung und Pluralisierung der Lebensformen für jeden Einzelnen die Möglichkeit eröffnet, einen eigenen Weg zu gehen, sich eigene Ziele zu setzen und sich seiner besonderen Individualität gemäß an einer „Selbstverwirklichung“ zu versuchen.
Das alles ist natürlich im 18. Jahrhundert schon längst im Gange, vorangetrieben vor allem von der Bewegung der Aufklärung, aber es gewinnt im Zeitalter der Französischen Revolution doch eine neue Qualität, insofern die Gesellschaft hier in einem zuvor noch nie dagewesenen Maße in Bewegung gerät: Könige, Adlige und Kirchenfürsten verlieren ihren Kopf und ihr Vermögen, einfache Soldaten steigen in den Adel, ja bis zum Kaisertum auf, und mancherorts wird sogar die christliche Religion von Staats wegen abgeschafft.
Modernisierung und Nationalismus
Eben hier liegen nun auch die Quellen des modernen Nationalismus, wie er sich seinerzeit überall in Europa Bahn brach. Mit seiner Hilfe sollte irgendwie Ordnung in die Dynamik der Modernisierung gebracht werden, sollte die neue Mobilität gebändigt, sollten der neue Pluralismus und Individualismus begrenzt und die Kräfte der Bindung des Einzelnen an das Gemeinwesen gestärkt werden. Während des gesamten 19. Jahrhunderts haben sich die europäischen Gesellschaften
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darin geübt, die immer neuen Modernisierungsschübe und Modernisierungskrisen mit Hilfe des Nationalismus zu bestehen.6 Und so ist es bis weit ins 20. Jahrhundert hinein geblieben, und ist es in manchen Weltgegenden heute noch immer. Selbst in Deutschland sammeln sich die Modernisierungsverlierer, diejenigen, die der Dynamik der Modernisierung nicht gewachsen sind, zum Teil noch immer unter der Fahne des Nationalismus und suchen die Mobilität der Moderne, ihren Pluralismus und Individualismus zu begrenzen, indem sie rufen: Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!
Ideengeschichtliche Voraussetzungen des modernen Nationalismus
Das alles hat im Zeitalter der Französischen Revolution begonnen. Die theoretischen Grundlagen dafür, daß der nationale Gedanke nun zu einer Dominante der Kultur wurde, sind freilich bereits im 18. Jahrhundert geschaffen worden. Hier ist vor allem an den Begriff des „Volksgeists“ zu denken, wie er von dem französischen Schriftsteller Montesquieu (1689–1755) in seiner Abhandlung über den „Geist der Gesetze“ („De l’esprit des lois“) von 1748 entwickelt worden ist. Montesquieu erklärt die Tatsache, daß die Staaten der verschiedenen Nationen – der Griechen, Römer, Italiener, Spanier, Franzosen, Engländer, Deutschen – verschiedene Verfassungen, verschiedene „Gesetze“ haben, mit einem je anders gerichteten „esprit de la nation“; dieser soll für die Unterschiede verantwortlich sein, die der Kultur der verschiedenen Nationen ihre besondere Gestalt verleihen, und damit wie ihren Staaten, ihren Verfassungen, ihren „Gesetzen“, so auch ihrer Kunst und Literatur.
In Deutschland hat sich vor allem Johann Gottfried Herder (1744 – 1803)7 für den Begriff des „Volksgeists“ stark gemacht – ein Autor, der sich selbst als Schüler von Montesquieu sah und ein „zweiter Montesquieu“ werden wollte – und er hat ihn mit besonderem Nachdruck in
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Fragen der Kunst und Literatur zur Geltung gebracht. Das literarische Kunstwerk ist für ihn wie jedes Artefakt zugleich ein Zeugnis der „allgemeinen Menschennatur“, ein Ausdruck des besonderen, individuellen „Genies“ seines Autors und die Manifestation eines bestimmten „Volksgeists“. Der „Volksgeist“ soll als Quelle des „Charakteristischen“ die Ebene bezeichnen, die zwischen der allgemeinen Menschennatur in ihrer unspezifischen Abstraktheit und der je besonderen Individualität des Autors vermittelt.
In diesem Zusammenhang hat eine Sammlung „fliegender Blätter“ Berühmtheit erlangt, die Herder 1773 herausgab und an der auch der junge Goethe mitwirkte, eines der wichtigsten Dokumente des Sturm und Drang, das den Titel trägt „Von deutscher Art und Kunst“. Der Titel spricht für sich: was die Deutschen an Kunst hervorbringen, soll nun wesentlich als Ausdruck deutscher Wesensart begriffen werden. Übrigens kann man schon dieser Schrift ansehen, daß der Begriff des deutschen Wesens eine Konstruktion war, die nicht ohne Gewaltsamkeiten und Schiefheiten zustande zu bringen war. Die wichtigsten Beiträge des Sammelbands stammen vom jungen Goethe und sind Shakespeare und dem Straßburger Münster gewidmet. Shakespeare ist aber durchaus kein Beispiel für deutsche, sondern allenfalls für englische Art und Kunst, und die Gotik, die Goethe am Straßburger Münster bewundert, stammt aus Frankreich und nicht aus Deutschland; sie war zunächst die Kirchenbaukunst der französischen Könige. Beides, Shakespeare und die Gotik, wird hier aber für eine spezifisch deutsche Kultur reklamiert – was da als „deutsche Art und Kunst“ behauptet wird, ist offensichtlich von Anfang an krumm und schief.
Bei Herder ist der „Volksgeist“ zunächst nur ein Faktor der kulturellen Produktion unter anderen; die allgemeine Menschennatur und die Individualität, das „Genie“ des Autors bedeuten ihm mindestens genauso viel, wenn nicht noch mehr als der „Volksgeist“.8 Das ändert sich dann aber bei seinen Nachfolgern, und es ändert sich gerade in der Zeit der Französischen Revolution, in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts. Hier sind vor allem die Romantiker zu
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nennen, wie sie ihre Arbeit wesentlich als eine deutsche Antwort auf die Französische Revolution verstanden. Bei ihnen wird die Ebene des „Volksgeists“ nach und nach wichtiger als alles andere, wichtiger als die Ebenen der „allgemeinen Menschennatur“ und des individuellen „Genies“ eines Autors.
Dabei wird der Autor zu einer Art Medium des „Volksgeists“. Was ein Goethe schreibt und die Art, wie er schreibt, sollen nun wesentlich als Ausdruck des deutschen „Volksgeists“ und der deutschen „Volksseele“, als Manifestation des „deutschen Wesens“ verstanden werden. Von „Volksseele“ spricht zum Beispiel einer der Propagandisten des deutschen