Theologie des Neuen Testaments. Udo Schnelle

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Название Theologie des Neuen Testaments
Автор произведения Udo Schnelle
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846347270



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Die Zeit des Heils im Auftreten Jesus setzt sich fort in der universalen Evangeliumsverkündigung der Kirche (vgl. Apg 10,34f). Einen Schritt weiter geht Johannes, bei dem Jesus zum verborgenen Subjekt der Schrift wird (Joh 5,46: „Denn wenn ihr Mose glaubtet, würdet ihr auch mir glauben, denn über mich hat jener geschrieben“). Identifizier- und abgrenzbare Zitate aus dem Alten Testament34 finden sich in Joh 1,23; 1,51; 2,17; 6,31; 6,45; 10,34; 12,13.15.27.38.40; 13,18; 15,25; 16,22; 19,24.28.36.37; 20,28; vgl. ferner Joh 3,13; 6,45; 7,18.38.42; 17,12. Auffällig sind die unterschiedlichen Einleitungsformeln in den beiden Hauptteilen des Evangeliums. Während sich im ersten Teil des Evangeliums fünfmal das Partizip γεγραμμένον in Verbindung mit ἐστίν (vgl. Joh 2,17; 6,31; 6,45; 10,34; 12,14) findet, sprechen die neuen Einleitungsformeln im zweiten Hauptteil des Evangeliums (ab Joh 12,38) ausdrücklich von der Erfüllung des Gotteswillens in der Passion Jesu Christi. Die Schriften verweisen hier nicht nur auf Jesus, sondern Christus bezeugt sich selbst in ihnen. Damit ist ein grundlegender Perspektivenwechsel vollzogen, die Christologie empfängt nicht nur Impulse aus den Schriften, sondern prägt diese inhaltlich. Im Rahmen der temporären und sachlichen Priorität des Christusgeschehens weist Johannes der Schrift einen außerordentlichen Rang zu: Als Christuszeuge kommentiert und vertieft sie die wahre Erkenntnis des Gottessohnes.

      Einige Einzeltexte nehmen in der frühchristlichen AT-Rezeption eine besondere Stellung ein.

      Paulus setzt mit Gen 15,6 und Hab 2,4b faktisch alle anderen Texte des Alten Testaments außer Kraft. Bei der interpretierenden Aufnahme von Hab 2,4bLXX in Gal 3,11 und Röm 1,17 bindet der Apostel die Treue Gottes nicht an den aus der Tora lebenden Gerechten, sondern an den Glauben an Jesus Christus als Rechtfertigungsgeschehen. Der chronologische Abstand zwischen Gen 15,6 und Gen 17 hat bei Paulus theologische Qualität. Gilt die Beschneidung aus jüdischer Sicht als umfassender Treueerweis Abrahams gegenüber den Geboten Gottes, so trennt Paulus die Beschneidung von der Glaubensgerechtigkeit. Die Glaubensgerechtigkeit ging der Beschneidung voran, so dass die Beschneidung lediglich als eine nachträgliche Anerkennung und Bestätigung der Glaubensgerechtigkeit verstanden werden kann. Eine Schlüsselstellung nahm Ps 110,1LXX bei der Herausbildung der frühen Christologie ein35: „Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich dir deine Feinde als Schemel unter deine Füße lege.“ Hier fanden die frühen Christen den maßgeblichen Schriftbeleg für Jesu himmlische Würde und Funktion: Er wurde zur Rechten Gottes erhöht, hat Anteil an der Macht und Herrlichkeit Gottes und übt von dort seine Herrschaft aus (vgl. 1Kor 15,25; Röm 8,34; Mk 12,36; 14,62; Mt 22,44; 26,64; Lk 20,42; 22,69; Apg 2,34; Kol 3,1; Eph 1,20; Hebr 1,3.13; 8,1; 10,12). In diesem Kontext übertrugen die ersten Christen schon sehr früh die für Gott geläufige Anrede ‚Herr‘ auf Jesus (vgl. die Aufnahme von Joel 3,5LXX in Röm 10,12f; ferner 1Kor 1,31; 2,16; 10,26; 2Kor 10,17) und brachten damit seine einzigartige Autorität in Abgrenzung zu anderen Ansprüchen zum Ausdruck36. Bei der Ausformung der Sohnes-Christologie (vgl. 1Thess 1,9f; Röm 1,3b–4a; Mk 1,11; 9,7) dürfte Ps 2,7 („Kundtun will ich den Beschluss des Herrn; er sprach zu mir: Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt“; vgl. ferner 2Sam 7,11f.14) eine zentrale Bedeutung eingenommen haben.

      Als intertextuelles Phänomen leistet die christologische Relecture der Schrift zweierlei: Sie stellt die atl. Referenztexte in einen neuen Sinnhorizont und legitimiert zugleich die eigene theologische Position der ntl. Autoren. Dabei bildet nicht das Eigengewicht der Schrift, sondern Gottes endzeitliches Heilshandeln in Jesus Christus die sachliche Mitte ihres Denkens. Zentrale Inhalte jüdischer Theologie (Tora, Erwählung) werden neu bedacht und der Schrifttext in einen produktiven intertextuellen Interpretationsprozess hineingenommen.

      Die Entwicklung der frühen Christologie vollzog sich in Kontinuität zu jüdischen Basissätzen, die wichtige Verstehenskategorien lieferten: Gott ist einer, er ist der Schöpfer, der Herr und der Erhalter der Welt. Traditionen des antiken Judentums37 ermöglichten es auch, am Monotheismus festzuhalten, zugleich aber Jesus von Nazareth als Χριστός, ϰύριος und υἱὸς τοῦ ϑεοῦ zu bezeichnen. Für das frühe Christentum war es ein naheliegender Vorgang, vornehmlich in der jüdischen Tradition verankerte Hoheitstitel (s.o. 3.9/s.u. 4.6) auf Jesus zu übertragen. Nach jüdischer Vorstellung gibt es nur einen Gott, aber er ist nicht allein. Zahlreiche himmlische Mittlergestalten wie die Weisheit (vgl. Prov 2,1–6; 8,22–31; Sap 6,12–11,1), der Logos oder die Namen Gottes haben ihre Heimat in unmittelbarer Nähe zu Gott38. Biblische Patriarchen wie Henoch (vgl. Gen 5,18–24)39 oder Mose und Erzengel wie Michael40 umgeben Gott und wirken nun in seinem Auftrag. Sie bezeugen die Weltzugewandtheit Gottes, zeigen, dass Gottes Macht überall präsent ist und alles seiner Kontrolle unterliegt. Als Teilhaber an der himmlischen Welt sind sie Gott untergeordnet, sie gefährden in keiner Form den Glauben an den einen Gott. Als geschaffene und untergebene Kräfte traten sie in keine Konkurrenz zu Gott, als göttliche Attribute beschreiben sie in der Sprache menschlicher Hierarchie die Aktivitäten Gottes für die Welt und in der Welt. Zugleich sind aber gravierende Unterschiede offenkundig41: 1) Die personifizierten göttlichen Attribute waren keine gleichwertigen Personen mit eigenständigen Handlungsfeldern. 2) Sie wurden nicht kultisch verehrt. 3) Innerhalb der Vielfalt jüdischer Vorstellungen war es undenkbar, dass ein gerade schmachvoll Verstorbener in gottgleicher Art verehrt wurde.

      Das Judentum bildet auch bei der Hoffnung auf die Auferstehung der Toten den religionsgeschichtlichen Rahmen und Hintergrund, hier formte sich diese Vorstellung im Rahmen der Apokalyptik im 3./2.Jh. v.Chr. aus42. Der einzig unbestrittene Auferstehungstext im AT ist Dan 12,2f: „Von denen, die im Land des Staubes schlafen, werden viele erwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewigem Abscheu. Die Verständigen werden strahlen, wie der Himmel strahlt; und die Männer, die viele zum rechten Tun geführt haben, werden immer und ewig wie die Sterne leuchten.“ Als zweiter zentraler Text ist Jes 26,19 zu nennen: „Deine Toten werden leben, die Leichen stehen wieder auf; wer in der Erde liegt, wird wachen und jubeln. Denn der Tau, den du sendest, ist ein Tau des Lichts; die Erde gibt die Toten heraus.“ Die in beiden Texten vorausgesetzte Auferstehungshoffnung hat eine Vorgeschichte im AT, zu verweisen ist auf Jes 26 und Ez 37,1–14. Im 2./1.Jh. v.Chr. bezeugen zahlreiche Texte die Auferstehungshoffnung: SapSal 3,1–8; äthHen 46,6; 48,9f; 51,1; 91,10; 93,3f; 104,2; PsSal 3,10–12; LAB 19,12f; 2Makk 7,9; TestBen 10,6–10. Von besonderer Bedeutung ist, dass es auch bei den Essenern den Glauben an eine Auferweckung der Toten gegeben hat. In 4Q521 2 II,12 wird von Gott lobpreisend gesagt: „Dann wird er Erschlagene heilen, und Tote wird er lebendig machen; Armen wird er frohe Botschaft verkünden …“ In der gleichen Handschrift findet sich in Fr. 7,6 folgender Text: „… der lebendig macht die Toten seines Volkes“43.

      Auch genuin griechisch-hellenistische Vorstellungen dürften die Entstehung der frühen Christologie mit beeinflusst und ihre Rezeption erleichtert haben. Die pagane Erzählkultur um Götter in Menschengestalt, um Helden wie Herakles oder andere Heroen gehörte zur Sozialisation vieler Heidenchristen, vor allem in den Städten Kleinasiens und Griechenlands. Die Menschwerdung Gottes und die Gottwerdung eines Menschen ist keine jüdische, sondern eine griechische Vorstellung44. Die Inkarnation von Göttern bzw. gottähnlichen Wesen (und die Vergöttlichung eines Menschen) als eine genuin griechische Anschauung verweist auf kulturgeschichtliche Vorgaben, die bei der Ausbildung45 und der Rezeption46 der frühen Christologie eine wichtige Rolle gespielt haben dürften. Ein anthropomorpher Polytheismus ist geradezu das Kennzeichen der griechischen Religion47 (klassisch Eur, Alc 1159: „Viele Gestalten kennt das Göttliche“ = πολλαὶ μορφαὶ τῶν δαιμονίων). Göttliche Wesen in Menschengestalt stehen bereits im Zentrum des klassischen griechischen Denkens; Homer berichtet: „Durchwandern die Götter doch, Fremdlingen gleichend, die von weit her sind, in mancherlei Gestalt die Städte …“.48 Die Entstehung der Kultur wird auf das Eingreifen der Götter zurückgeführt, so schickt Zeus den Hermes, um die Menschen Recht und Scham zu lehren49; Hermes, Herakles und Apollo nehmen als Boten der Götter Menschengestalt an bzw. wirken als Götter unter den Menschen50. Götter in Menschengestalt können sowohl einen irdischen